03 - Auf Ehre und Gewissen
nicht. Lynley machte ihn mit Havers bekannt, die sich auf einer kleinen Gebetbank im Hintergrund der Kapelle niedergelassen hatte, um auf Anweisungen zu warten. Ohne den geringsten Hehl daraus zu machen, studierte sie jetzt den Schulleiter von Bredgar Chambers mit voller Aufmerksamkeit.
Lynley selbst vermerkte die Details, die Havers sich einprägen und späteren Kommentars für würdig befinden würde. Lockwood mußte ungefähr Mitte vierzig sein. Obwohl nur mittelgroß, brachte er es fertig, einem das Gefühl zu geben, er blicke auf einen herab, da er die Angewohnheit hatte, seinen Körper im Stehen leicht abzuwinkeln. Seine Kleidung unterstrich zusätzlich den Eindruck beherrschter Überlegenheit, den er zweifellos zu vermitteln wünschte: Die Robe war mit scharlachroter Seide eingefaßt, und unter dem Arm trug er ein Barett, Zeichen seiner akademischen Würde. Sein Anzug war von ausgezeichnetem Schnitt, sein Hemd blütenweiß, die Krawatte tadellos gebunden. Alles in allem bot er das Bild eines Mannes, der es gewöhnt war, Befehle zu erteilen, und erwartete, daß sie fraglos ausgeführt wurden. Aber irgendwie wirkte das alles einstudiert - auch der Händedruck; so als hätte Lockwood das Rollenbild des Schulleiters gründlich recherchiert und sich in eine Schablone eingepaßt, die mit seinem Wesen nicht ganz in Einklang stand.
Havers griff in die Tasche ihrer grünen Wolljacke, zog ihren Block heraus und klappte ihn auf. Sie verzog den Mund zu einem Lächeln reinster Unaufrichtigkeit.
Lockwood wandte sich wieder Lynley zu. »Eine schlimme Geschichte ist das«, sagte er ernst. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie erleichtert ich bin, daß Scotland Yard sich der Sache annimmt. Sie werden gewiß mit den Lehrern des Jungen sprechen wollen, John Corntel, der ja bei Ihnen war, und Cowfrey Pitt. Vielleicht auch mit Judith Laughland, unserer Krankenschwester. Und mit den Kindern. Auch mit Harry Morant. Das ist der Junge, bei dem Matthew am Wochenende eingeladen war. Ich würde denken, daß er Matthew am besten kannte. Sie scheinen besonders gute Freunde gewesen zu sein.«
»Ich würde gern in Matthews Zimmer anfangen.«
Lockwood zog an seinem Hemdkragen, der weit den vom Rasieren geröteten Hals hinaufgerutscht war. »Aber ja. Natürlich. Das ist einleuchtend.«
»Alan«, rief leise eine Frau, die unmittelbar vor der kleinen Seitenkapelle stand. »Der Gottesdienst ist gleich zu Ende. Möchtest du -«
Lockwood entschuldigte sich und verschwand. Kurz darauf hörten sie seine Stimme - seltsam verzerrt ohne Mikrofon -, als er die Schüler zum Unterricht entließ. Es folgte allgemeines Füßescharren, dann gingen die Schüler, ohne zu sprechen, hinaus, um den Schultag zu beginnen.
Lockwood kehrte zurück, begleitet von einer Frau, die unaufwendig und praktisch in Rock, Bluse und Jacke gekleidet war. Sie war eine hübsche, klar und sauber wirkende Person mit flott geschnittenem grauen Haar.
»Meine Frau, Kathleen.« Lockwood zupfte einen Fussel von ihrer Schulter und redete weiter, ehe sie ein Wort der Begrüßung sagen konnte. »Ich habe in einer Viertelstunde einen Termin mit einem Vater.« Er sah demonstrativ auf seine Uhr. »Meine Frau wird Sie zu Chas Quilter bringen. Er ist dieses Jahr unser Schulpräfekt. Der Sohn von Sir Francis Quilter. Sie haben sicherlich von ihm gehört.«
»Tut mir leid, nein.«
Kathleen Lockwood lächelte. Es war ein sympathisches Lächeln, aber es wirkte müde und schien sie eine Menge Kraft zu kosten. »Dr. Quilter«, erklärte sie. »Er ist Facharzt für plastische Chirurgie. In London.«
»Aha.« Mit Praxis in der Harley Street zweifellos und einem Aktenschrank voll streng gehüteter Geheimnisse der feinen Gesellschaft.
»Ja«, sagte Alan Lockwood, nichts und niemandem im besonderen zustimmend. »Ich habe mit Chas gesprochen. Er wird Ihnen zur Verfügung stehen, solange Sie ihn brauchen. Meine Frau bringt Sie jetzt zu ihm. Er ist gerade mit dem Rest des Chors in die Sakristei gegangen. Wenn er Ihnen die Schule gezeigt hat, können wir beide uns vielleicht unterhalten. Und Ihre Kollegin natürlich auch. Irgendwann später.«
Lynley sah fürs erste keine Notwendigkeit, den Schulleiter in die Schranken zu weisen. Wenn es dem Mann so wichtig war, sich einbilden zu können, daß er bei dieser Untersuchung zu bestimmen hatte, dann wollte er ihm die Illusion ruhig lassen.
»Gern. Das ist sehr entgegenkommend von Ihnen.«
»Man tut, was man kann.« Lockwood zollte flüchtig seiner Frau
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