03 - Auf Ehre und Gewissen
sein Blick schon auf sie gerichtet war. Wie lange schon, hätte sie nicht sagen können. Doch während sie einander anblickten, ohne sich zu berühren, wurde Deborah in aller Deutlichkeit bewußt, in welchem Maß ihre Vergangenheit die Zukunft, die mit Simon möglich gewesen wäre, schon zerstört hatte.
Er richtete sich auf, sah sie auf einen Ellbogen gestützt an. Er hob die Hand, zeichnete ihre Augenbrauen nach, streichelte ihre Wange. »Geht es dir besser?« Die liebevollen Worte und die zärtliche Berührung waren ihr ein Quell unerträglichen Schmerzes.
»Ja. Viel besser.« Die Lüge schien belanglos im Vergleich zum Rest.
»Du hast mir so gefehlt, Deborah.« Mit den Fingern strich er ihr leicht über die Lippen, ehe er sich vorbeugte, um sie zu küssen.
Sie wollte ihn an sich ziehen; ihm ihre Lippen öffnen; ihn streicheln und erregen. Es verlangte sie schmerzhaft danach, es zu tut.
Tränen brannten ihr in den Augen. Sie wandte den Kopf ab, um es ihn nicht sehen zu lassen, aber sie war nicht schnell genug.
»Deborah!« Er war tief betroffen.
Sie schüttelte wortlos den Kopf.
»Ach Gott, es ist noch zu früh. Es tut mir leid. Verzeih mir, Deborah. Bitte.« Er berührte sie ein letztes Mal, ehe er von ihr abrückte, um nach den Krücken zu greifen, die neben dem Bett an der Wand lehnten. Er schwang die Beine aus dem Bett und stand auf, nahm seinen Morgenrock und schlüpfte, infolge seiner Behinderung, ungeschickt hinein.
Unter anderen Umständen hätte sie ihm dabei geholfen, aber jetzt, glaubte sie, hätte er solch liebevolle Hilfe als Heuchelei empfunden. Darum blieb sie, wo sie war, und sah ihm nach, wie er hinkend zum Badezimmer ging. Die Finger, die die Krücken hielten, waren weiß. Sein Gesicht war todtraurig.
Als sich die Tür hinter ihm schloß, begann Deborah zu weinen. Tränen, das war die einzige Art von Regen, die ihren Wurzeln in den vergangenen sechs Wochen gesandt worden war.
Ihre gemeinsamen Tage hatten immer ein Gleichmaß besessen, das Deborah wichtig war. Wenn sie nicht auf einer Fotografieexkursion war, pflegte sie in ihrer Dunkelkammer zu arbeiten, vielleicht eine Präsentationsmappe vorzubereiten. Simons großes Labor, das den größten Teil des oberen Stockwerks im Haus einnahm, befand sich gleich neben Deborahs Arbeitsplatz. War er nicht bei Gericht oder bei einem Vortrag oder in einer Besprechung mit Anwälten und ihren Mandanten, so war er in seinem Labor, wie eben jetzt. Geradeso wie sie in der Dunkelkammer war, deren Tür offenstand, und sich bemühte, das Interesse zu finden, um die Arbeit an den Aufnahmen, die sie von ihrer Reise mitgebracht hatte, anzupacken. Nur eines unterschied diesen Tag von allen früheren Arbeitstagen: die Distanz, die sie zwischen Simon und sich aufgebaut hatte, und das Unausgesprochene, das gesagt werden sollte.
Es war so still im Haus, daß das Läuten der Türglocke wie splitterndes Glas klang.
»Wer kann das denn sein?« murmelte Deborah. Dann hörte sie die vertraute Stimme, den bekannten Schritt auf der Treppe.
»Ich hab meinen Augen nicht getraut, als gestern abend Debs Name auf dem Computerbildschirm erschien«, sagte Lynley zu Deborahs Vater. »Lieber Gott, muß das eine Heimkehr gewesen sein!«
»Ja, das Kind war ein wenig durcheinander«, antwortete Cotter höflich.
Deborah, die die Antwort hörte, war ausnahmsweise einmal dankbar dafür, daß ihr Vater bei Besuch automatisch in die Rolle des Hausangestellten schlüpfte. »Das Kind war ein wenig durcheinander«, war Auskunft genug auf eine beiläufige Bemerkung Lynleys. Sie verbarg die Realität und diente doch als Antwort.
Vom Scheitel bis zur Sohle der perfekte Butler, trat Cotter ins Labor und sagte: »Lord Asherton, Mr. St. James.«
»Eigentlich wollte ich zu Deb«, bemerkte Lynley.
»Wenn sie da ist.«
»O ja, sie ist hier«, erwiderte Cotter.
Deborah bedauerte es, daß sie sich nicht in die Dunkelkammer eingeschlossen und das Warnlicht eingeschaltet hatte.
Jetzt freundliche Konversation zu machen, ganz gleich, mit wem, erschien ihr eine bodenlose Heuchelei, die kaum auszuhalten war. Lynley gegenüberzutreten und sich seiner intuitiven Fähigkeit auszusetzen, Stimmungen zu erfassen, war noch schlimmer. Aber es gab kein Entkommen. Ihr Vater hatte in ihre Richtung gewiesen, ehe er gegangen war, und Lynley war schon weit genug im Labor, um sehen zu können, daß die Tür zur Dunkelkammer offenstand. Simon war, wie sie sah, mit einer Serie Fingerabdrücke
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