03 - Auf Ehre und Gewissen
andere weiß; alles Symbole, die dem Gründer der Schule wichtig gewesen waren. »Mr. Lockwood hat mich gebeten, Ihnen die Schule zu zeigen. Ich stehe zu Ihrer Verfügung.« Chas lächelte und fügte mit entwaffnender Offenheit hinzu: »Da komm ich heute morgen um den Unterricht herum.«
Um sie herum nahmen die anderen Jungen, als hätten sie nur abwarten wollen, wie der Schulpräfekt sich der Begegnung mit der Polizei gewachsen zeigte, ihre Gespräche wieder auf. Zufrieden offenbar mit Chas' Verhalten, schlüpften sie in ihre Blazer, nahmen ihre Bücher von den Bänken, die sich an den Wänden der Sakristei entlangzogen, und marschierten hinaus, nicht durch die Kapelle, sondern durch eine andere Tür, die in einen Nebenraum führte. Man hörte noch eine Weile ihre Stimmen, dann öffnete sich eine weitere Tür, und es wurde still.
Allein mit den Erwachsenen, zeigte Chas Quilter keinerlei Unbehagen; keine Spur von ängstlicher Beflissenheit eines Jugendlichen, kein nervöses Von-einem-Fuß-auf-den-anderen-Treten, kein krampfhaftes Bemühen, ein Gespräch aufrechtzuerhalten.
»Sie wollen sich sicher zuerst einmal die Schule ansehen. Am einfachsten ist es, wenn wir gleich hier rausgehen.«
Chas nickte Kathleen Lockwood grüßend zu, dann führte er Lynley und Havers zu der Tür, durch die auch die anderen Schüler hinausgegangen waren.
Sie führte in einen leeren Theatersaal, der allem Anschein nach nicht mehr benützt wurde. Ein muffiger Geruch hing in der Luft, und Staub machte die Farbe der Samtvorhänge stumpf, die seitlich der kleinen Bühne herabhingen. Sie schritten über einen zerkratzten Parkettboden und gelangten durch eine weitere Tür in den Kreuzgang, den ältesten Teil des Gebäudes. Unverglaste Spitzbogenfenster gaben den Blick auf den viereckigen Innenhof frei: vier quadratische Rasenflächen und kopfsteingepflasterte Wege, die alle zum Standbild Henry Tudors in der Mitte des Hofs führten. In einer Ecke, nahe der Kapelle, erhob sich ein Glockenturm.
»Das hier ist der geisteswissenschaftliche Fachbereich«, bemerkte Chas im Gehen. Er winkte drei Jungen und einem Mädchen zu, die mit lauten Schritten vorbeirannten. »Zum fünften Mal zu spät, das gibt zwei Wochen Ausgangssperre, das ist euch wohl klar?« rief er ihnen hinterher.
»Ach, halt die Klappe, Quilter«, rief einer zurück.
Er lächelte, nicht im geringsten pikiert. »Die Oberstufe hat vor dem Schulpräfekten überhaupt keinen Respekt«, erklärte er Lynley. Eine Antwort auf diese Feststellung, die die Grenzen seiner Macht zeigte, schien er nicht zu erwarten. Er ging ruhig weiter und blieb schließlich an einem der Fenster stehen, um ihnen die Anlage des Hofs zu erklären.
Vier große Gebäude umschlossen ihn. Chas wies auf jedes von ihnen hin, während er seine Funktion erläuterte. Im Ostbau, erklärte er, befand sich auf der einen Seite des Haupttors die Kapelle, im anderen Flügel waren die Verwaltungsräume mit Sekretariat und Direktorat untergebracht, außerdem der Sitzungssaal, wo der Verwaltungsrat zusammenzutreten und die Aufsichtsschüler der einzelnen Wohnhäuser ihre Besprechungen abzuhalten pflegten. Im Südbau waren die Bibliothek, das alte große Schulzimmer aus jener Zeit, als Bredgar Chambers seine ersten vierundvierzig Schüler aufgenommen hatte, der Aufenthaltsraum für Lehrer, wo diese ihre Mahlzeiten einnahmen und ihre Post in Empfang nahmen, und die Küche. Im Westbau befanden sich der Speisesaal für die Schüler und Unterrichtsräume des geisteswissenschaftlichen Fachbereichs, und im Nordbau, wo sie sich im Augenblick befanden, war der Musikbereich untergebracht. Im ersten Stock aller vier Gebäude, die durch Korridore und Türen miteinander verbunden waren, befanden sich die Unterrichtsräume insbesondere für Englisch, Sozialkunde, Kunst und Fremdsprachen.
»Alles andere liegt abseits vom Haupthof«, erklärte Chas. »Die Übungsräume für Theater und Tanz, die Werkstatt, der mathematische und naturwissenschaftliche Fachbereich, die Sporthalle und die Krankenstation.«
»Und die Wohnhäuser der Jungen und Mädchen?«
Chas schnitt eine kleine Grimasse. »Die sind natürlich durch den Hof voneinander getrennt. Die Mädchen wohnen im Süden, die Jungen im Norden.«
»Und wenn sich ein Pärchen findet?« erkundigte sich Lynley, den es interessierte, wie die modernen Internate - die mit Hilfe einer liberaleren Zulassungspolitik ihren Erhalt sichern wollten - sich in den gefährlichen Wassern der Koedukation
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