03 - Auf Ehre und Gewissen
betrachteten, »die Finsternis, Sohn des Chaos und Bruder der Nacht. Der Vater von Tag und Himmel. Auf der Fahne kann man das leider nicht mehr sehen. Sie ist völlig ausgebleicht.«
»Sie sind auf dem humanistischen Zweig?« fragte Lynley.
»Nein, Chemie, Biologie und Englisch sind meine Hauptfächer«, antwortete Chas. »Aber wir müssen alle die Bedeutung der Hausnamen kennen. Das gehört zur Tradition.«
»Wie heißen die anderen Häuser?«
»Mopsos, Ion, Kalchas, Eirene und Galatea.«
»Eine interessante Auswahl, wenn man sich mal überlegt, auf welche Mythen diese Namen anspielen. In den beiden letztgenannten Häusern wohnen wohl die Mädchen.«
»Ja. Ich selbst wohne in Ion.«
»Sohn der Kreusa und des Apollo. Eine interessante Geschichte.«
Chas rutschte schon wieder die Brille von der Nase. Er schob sie hoch und lächelte. »Die Sextaner wohnen oben. Die Treppe ist da drüben.« Er ging ihnen voraus.
In der ersten Etage des Gebäudes war alles leer. Sie gingen durch einen schmalen, mit abgetretenem braunen Linoleum ausgelegten Korridor, dessen Wände in einem schmutzunempfindlichen Graugrün gestrichen waren. Es roch ausschließlich nach Schweiß und modriger Feuchtigkeit. In Deckenhöhe zogen sich Wasserrohre den ganzen Flur entlang bis zu seinem Ende, wo sie nach unten abbogen und in einem Loch im Boden verschwanden. Die Zimmer der Schüler befanden sich zu beiden Seiten des Ganges. Die Türen hatten keine Schlösser, aber sie waren alle geschlossen.
Vor der dritten Tür links blieb Chas stehen, klopfte einmal, sagte »Quilter« und drückte sie mit der Schulter einen Spalt auf. Er warf einen kurzen Blick ins Zimmer, sagte, »Du meine Güte«, und drehte sich zu Lynley und Havers um. Sein Gesicht verriet ihnen, daß etwas nicht in Ordnung war. Er gab sich alle Mühe, diesen vorübergehenden Bruch in der Fassade zu übertünchen, indem er mit einer lebhaften Geste der Entschuldigung die Hand schwang. »Da haben wir's. Ziemlich übel. Kaum zu glauben, daß vier Jungs so ein - na, schauen Sie es sich selbst an.«
Lynley und Havers traten ein. Chas blieb an der Tür stehen.
Das Zimmer sah chaotisch aus: Zeitschriften und Bücher überall herumgeworfen, Papiere auf dem Boden, überquellende Papierkörbe, ungemachte Betten, offenstehende Schränke und Schubladen, aus denen Sachen herausgerissen und unordentlich wieder hineingestopft waren, Kleidungsstücke achtlos irgendwohin geschleudert. Entweder hatte in dem Zimmer kürzlich eine eilige Durchsuchung stattgefunden oder der Hausälteste - dessen Aufgabe es war, für Ordnung zu sorgen - hatte seine Jungen nicht an der Kandare.
Während Lynley noch überlegte, welche der beiden Möglichkeiten die wahrscheinlichere war, sah er, wie Chas aus dem Zimmer hinausging, hörte ihn andere Türen im Korridor öffnen und schließen, vernahm seine gedämpften Ausrufe der Ungläubigkeit. Lynley hatte seine Antwort.
»Der Hausälteste für dieses Haus, Havers. Haben wir seinen Namen?«
Havers blätterte in ihrem Block zurück, las, blätterte weiter. »John Corntel sagte, es wäre - ah, hier! Brian Byrne. Ist der dafür zuständig?«
»Ja, aber wenn er so weitermacht, nicht mehr lang«, erwiderte Lynley. »Na, schauen wir uns mal um.«
Die Schlafräume waren in vier Zellen aufgeteilt, jede mit einer weiß gestrichenen Spanplattenwand abgeteilt, die ungefähr einen Meter fünfzig hoch war und wenigstens einen Anflug von Abgeschlossenheit bot. In jeder der vier engen Zellen standen ein Bett mit Bettkasten und ein Schrank, auf dem mit Klebeband ein Schildchen mit den Namen des Zellenbewohners befestigt war. Die Wände waren nach persönlichem Geschmack dekoriert.
Der Unterschied zwischen Matthews Wandschmuck und dem der anderen Jungen war verblüffend. In der Zelle, die, wie das Etikett auf dem Schrank verriet, von einem Jungen namens Wedge bewohnt wurde, pflasterten Poster von Musikgruppen die Wände, ein breitgefächertes Angebot, das einen vorurteilslosen Geschmack verriet. U2, die Eurythmics, Pink Floyd und Prince tummelten sich neben Uraltfotos der Beatles, der Byrds und von Peter, Paul and Mary. In Arlens Zelle posierten Badeschönheiten mit glänzenden, braungebrannten Körpern in äußerst reizvoller Badekleidung. Hingegossen lagen sie im Sand oder stolzierten amazonengleich durch die Dünen oder bäumten sich mit hochgereckten Brüsten in schöner Eindeutigkeit im weißen Schaum der Brandung. Smythe-Andres, der Bewohner des dritten Kapäuschens, hatte
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