03 - Auf Ehre und Gewissen
Aufmerksamkeit zu fesseln. Aber Emilia -« sein Gesicht wurde weich -, »wenn Emilia irgend etwas im Kopf hatte, dann mich, glaube ich. Ich glaube, sie wollte nichts anderes, als mich in- und auswendig kennenlernen. Wir schrieben einander sogar in den Ferien. Für mich ist es leichter, gewisse Dinge schriftlich auszudrücken; es ist leichter, sich zu zeigen, wie man wirklich ist. So geht es mir jedenfalls. Darum schrieb ich ihr und sprach mit ihr. Über meinen Vater, über den Roman, den ich unbedingt schreiben möchte, aber wahrscheinlich nie schreiben werde, über Musik, die ich liebe, über viele Dinge, die mir in meinem Leben wichtig sind. Aber nicht über alles. Ich zeigte ihr nur die guten Seiten. Selbst jetzt glaube ich, wenn ich ihr alles gesagt hätte - ihr all die widerwärtigen kleinen Geheimnisse verraten hätte, die jeder von uns hat -, hätte sie mich vielleicht nicht gewollt.« »Widerwärtige kleine Geheimnisse fallen in der Liebe nicht ins Gewicht«, bemerkte Lynley.
»Da täuschst du dich.« Corntel klang resigniert, aber ohne Selbstmitleid. »Bei dir ist das vielleicht anders, Tommy. Du hast einer Frau weit mehr zu bieten als ich. Aber bei mir bleibt nicht mehr viel, wenn der Geist und der Körper sich in ihrer ganzen Unzulänglichkeit offenbaren.«
Lynley erinnerte sich des Jungen, der in Eton mit solcher Selbstsicherheit durch die Gänge geschritten war, hochaufgerichtet, alle anderen überragend, ein glänzender Schüler, den eine große Zukunft erwartet. »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
Corntel schien seine Gedanken zu lesen. »Ja? Habe ich eine so gute Vorstellung gegeben? Soll ich dir einige Illusionen über mich nehmen?«
»Wenn es dir hilft. Wenn du es willst.«
»Nichts hilft. Und ich will es nicht. Aber Emilia hat mit Matthew Whateleys Tod nichts zu tun, und wenn ich dich davon überzeugen kann, indem ich dir über mich die Augen öffne, dann soll es so sein.« Er wandte sich ab. »Sie war am Freitagabend hier. Ich hätte sofort sehen müssen, warum sie gekommen war und was sie wollte, aber ich sah es nicht. Jedenfalls nicht früh genug, um zu verhindern, daß eine Situation entstand, die für uns beide fürchterlich war.«
»Ich nehme an, sie kam, weil sie mit dir schlafen wollte.«
»Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Fünfunddreißig! Weißt du, was das heißt?«
Lynley sah nur eine mögliche Deutung und faßte sie in Worte: »Du hattest vorher noch nie mit einer Frau geschlafen?«
»Mit fünfunddreißig Jahren. Ist das nicht erbärmlich? Ist das nicht krank und obszön?«
»Nichts dergleichen. Lediglich eine Tatsache.«
»Es war eine Katastrophe. Versuch dir die Einzelheiten selbst auszumalen und erspar mir eine Schilderung. Hinterher fühlte ich mich nur gedemütigt. Sie war außer sich, sie weinte, aber sie versuchte, das ganze Fiasko als ihre Schuld hinzustellen. Glaube mir, Tommy, sie war nicht in der Verfassung, irgend etwas anderes zu tun, als in ihre Wohnung zurückzukehren. Ich habe sie nicht aus dem Haus gehen sehen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie etwas anderes getan haben sollte.«
»Wo ist ihre Wohnung?«
»Sie ist Hausmutter im Haus Galatea.«
»Dann könnte Cowfrey Pitt vielleicht ihr Kommen und Gehen bestätigen?«
»Wenn du mir nicht glaubst, ja, frag Cowfrey. Aber ihre Wohnung ist am anderen Ende des Hauses. Es ist möglich, daß er keine Ahnung hat, wo sie war.«
»Und Samstag abend? War sie da wieder hier?«
Corntel nickte. »Um alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber wie kann man nach einer solchen Szene wieder zu der Freundschaft zurückfinden, die vorher bestanden hat, Tommy? Wie soll man das wiederherstellen, was in zwanzig Minuten peinlichen, fruchtlosen Bemühens in einem Bett völlig zerstört wurde? Darum war sie hier. Darum vergaß ich an diesem letzten Wochenende meine Runden als Schulaufsichtslehrer. Darum wußte ich nicht, daß Matthew Whateley weggelaufen war. Weil ich als Mann versagte, als ich das erste Mal in meinem Leben die Gelegenheit hatte, mit einer Frau zusammenzusein.
Matthew Whateley war weggelaufen.« Es war das zweite Mal, daß John Corntel das gesagt hatte, und es gab nur zwei mögliche Gründe für diese falsche Aussage. Entweder wußte er nichts von den Kleidungsstücken, die Frank Orten auf dem Müllhaufen gefunden hatte, oder er ging auf Nummer Sicher und hielt an der ursprünglichen Version fest, bis ihm die Polizei eine andere bot.
13
Um elf Uhr trafen sich Lynley und Barbara Havers im
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