03 - Auf Ehre und Gewissen
sogenannten großen Saal von Bredgar Chambers, der sich auf der Südseite des Haupthofs befand, im ältesten Unterrichtsgebäude der Schule. Es war ein weißgetünchter Raum mit Sockeltäfelung aus dunklem Eichenholz und einer schönen gewölbten Decke. Die Fenster saßen hoch in der Südwand des Saals, und darunter hingen die Porträts aller Männer, die die Schule geleitet hatten, seit Charles Lovell-Howard 1489 als erster in das Amt des Schulleiters eingeführt worden war.
Im Augenblick war der Saal leer. Ein schwacher Geruch nach feuchtem Holz hing in der Luft. Als Lynley die Tür schloß, ging Barbara zu den Fenstern und wanderte langsam an den Porträts entlang, bis sie zu dem Alan Lockwoods kam.
»Nur einundzwanzig Schulleiter in fünfhundert Jahren«, bemerkte sie. »Wer nach Bredgar Chambers kommt, scheint für immer zu bleiben. Da! Schauen Sie sich das an, Sir. Der Mann vor Lockwood war zweiundvierzig Jahre lang Direktor.«
Lynley trat zu ihr. »Das erklärt, warum Lockwood so eifrig bedacht darauf ist, die Ermordung Matthew Whateleys geheimzuhalten, nicht? Es würde mich interessieren, ob hier früher schon einmal so etwas passiert ist, unter der Leitung eines der anderen Männer.«
»Hm. Todesfälle hat es hier sicher immer gegeben. Man braucht sich ja nur die Tafeln in der Kapelle anzusehen.«
»Stimmt. Nur ist der Tod infolge von Krankheit oder an der Kriegsfront etwas ganz anders als Mord. Bei dem einen gibt es keine Schuld; beim anderen sehr wohl. Und die Schuld muß aufgedeckt werden. - Was haben Sie auf Ihrem Inspektionsgang durch die Schule gefunden?« Er sah, daß Barbara stirnrunzelnd zum Fenster hinausschaute. »Havers?«
Sie drehte sich um. »Entschuldigung. Ich war ganz in Gedanken.«
»Und?«
»Ach, nichts. Das, was Sie eben über die Schuld sagten. Ich fragte mich, wer die Schuld trägt, wenn ein Schüler Selbstmord verübt.«
»Edward Hsu?«
»Geliebter Schüler.«
»Ja, ich muß auch immer wieder an ihn denken. An Giles Byrnes Interesse an ihm. An seinen Tod. Aber wenn Matthew Whateley tatsächlich am letzten Freitag oder Samstag hier in der Schule getötet wurde, wie können wir Giles Byrne Schuld daran geben? Es sei denn, er war hier. Das bezweifle ich zwar, aber nachgehen sollten wir der Frage vielleicht doch.«
»Vielleicht war nicht er derjenige, Sir.«
»Wer dann? Brian Byrne? Wenn Sie das versuchen, verlieren Sie die Verbindung, die Sie knüpfen wollten, Sergeant. Edward Hsu hat sich 1975 mit eigener Hand das Leben genommen. Brian Byrne war damals vielleicht fünf Jahre alt. Wollen Sie einem Fünfjährigen die Schuld an einem Selbstmord zuweisen?«
Sie seufzte. »Ich weiß nicht. Aber ich muß immer wieder daran denken, was Brian über seinen Vater sagte.«
»Gut, aber sehen Sie es im Licht der Tatsache, daß er seinen Vater nicht mag. Hatten Sie nicht den Eindruck, daß Brian seinen Vater liebend gern lächerlich machen oder bloßstellen würde, wenn er eine Gelegenheit dazu hätte? Und die gaben wir ihm ja gestern.«
»Stimmt wahrscheinlich.« Havers schritt durch das Zimmer zum Podium, über dem ein kunstvoll gemeißeltes Flachrelief Heinrich VII. auf prächtig geputztem Streitroß zeigte. Darunter standen ein Refektoriumstisch und Stühle. Einen davon zog sie heraus, ließ sich darauf niederfallen und streckte die Beine aus.
Lynley folgte ihrem Beispiel. »Wir suchen einen Ort, wo man Matthew Whateley von Freitag nachmittag bis Freitag abend - vielleicht sogar bis Samstag abend - festgehalten hat, ehe man ihn fortbrachte. Was haben Sie gefunden?«
»Ziemlich wenig. An die Küche anschließend gibt es mehrere Lagerräume, die wir unberücksichtigt lassen können, weil er unmittelbar nach dem Mittagessen verschwand und um diese Zeit in dem Bezirk zuviel Betrieb gewesen wäre. Dann zwei alte Toiletten, die allem Anschein nach nicht regelmäßig benützt werden. Sie sind völlig verdreckt und teilweise kaputt.«
»Sie haben keine Anzeichen dafür entdeckt, daß kürzlich jemand in den Räumen war?«
»Nein. Wenn er wirklich da drinnen festgehalten wurde, hat man alle Spuren sorgfältig beseitigt.«
»Und sonst?«
»Abstellkammern gibt es in allen Wohnhäusern, aber sie sind abgeschlossen, und die Schlüssel haben nur die Hausväter, beziehungsweise die Hausmütter. Das gleiche gilt für die Mansarden über den Trockenräumen in den Häusern. Auch da haben nur Hausvater und Hausmutter die Schlüssel. Im naturwissenschaftlichen Gebäude gibt es mehrere
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