03 - Der Herr der Wölfe
Melisande hätte sich über die Rückkehr. in die schöne Stadt gefreut, wäre sie nicht um ihr eigenes Zuhause besorgt gewesen. Erin begrüßte sie liebevoll und wollte ganz genau wissen, was seit dem letzten Beisammensein geschehen war. Auch Rhiannon hatte sich eingefunden, um Eric zu begleiten, der ebenfalls dem Ruf seines Vaters folgte und für Niall kämpfen würde.
Den ersten Tag verbrachten die Männer mit einer Lagebesprechung. Melisande saß mit den Frauen im Grianan, dem Sonnenhaus für die Frauen, einem hübschen, gutgelüfteten Raum, den Olaf zu Ehren seiner Gemahlin nach irischer Sitte hatte bauen lassen. Rhiannon und Daria wanderten rastlos umher, aber Erin und ihre älteren Töchter befassten sich gelassen mit ihren Handarbeiten. Währenddessen las Katherine, Conans Frau, aus einer schönen Handschrift vor - Geschichten über die alten Völker Irlands, die Bildung ihrer gesellschaftlichen Strukturen und den heiligen Patrick, der die Einwohner christianisiert und alle Schlangen von der Insel verjagt hatte.
Eine Zeitlang hörte Melisande zu, dann schweiften ihre Gedanken ab. Sie begegnete Erins Blick und flüsterte:»Wie schaffst du es nur, so ruhig zu bleiben, obwohl sie alle bald davonreiten werden?«
Erin reichte ihr lächelnd eine Nadel. »Bitte fädle den Faden für mich ein. Meine Augen sind nicht mehr das, was sie mal waren.«
»Du siehst ausgezeichnet, Mutter«, widersprach Daria, »und du willst dir nur die Mühe ersparen.«
»Hör nicht auf dieses freche Mädchen, Melisande«, seufzte Erin.
Daria trat hinter ihren Stuhl und umarmte sie. »Von wem habe ich denn meinen Charakter geerbt? Von dir!«
»Großer Gott, war ich denn so ungestüm?«
»Angeblich noch viel wilder.«
Erin zuckte die Achseln und wandte sich wieder zu Melisande. »So ruhig bin ich nur deshalb, weil ich die Männer schon oft wegreiten sah. Glücklicherweise kehrten sie immer zurück - fast alle. Aber ich verlor auch einige, die ich liebte. Jedes Mal, wenn Olaf mich verlässt, stirbt ein kleiner Teil meiner Seele. Leith, mein ältester Sohn, zog als erster mit dem Vater in den Krieg, und ich dachte, ich könnte es nicht ertragen, wenn er fallen würde. Aber er kam wieder. Wann immer einer meiner Söhne davonreitet wird mir das Herz schwer. Aber ich vermag die Männer meines Lebens nicht zu schützen, wenn ich sie zur Schwäche zwinge. Meinem Vater gelang es, die meisten Königreiche dieser Insel zusammenzuhalten, weil er über die Kampfkraft meiner Brüder verfügte und vorteilhafte Bündnisse schloss. Und als er Olaf nicht aus Irland vertreiben konnte, vermählte er mich mit ihm. Solange wir vereint bleiben, sind wir stark.« Sie beugte sich zu Melisande, die immer noch schönen smaragdgrünen Augen waren voller Zuneigung. »Auch Conar wird zurückkehren.«
»Das hat er mir versichert«, sagte Melisande leise. Er musste wiederkommen - um einen Erben zu zeugen.
»Bedauerst du, dass du hierherfahren musstest nachdem du eben erst in deine Heimat gereist warst?«
»Nein«, entgegnete Melisande und fragte sich, ob Erin die Lüge erkennen mochte. Rasch senkte sie die Lider. »Wirklich, ich freue mich, dich wiederzusehen, denn damals konnte ich mich gar nicht richtig verabschieden.«
Lächelnd legte Erin ihre Näharbeit beiseite. »Hier bist du immer willkommen. « Dann wandte sie sich auch an die anderen Frauen. »Bitte, entschuldigt mich jetzt. Ich muss das Abendessen vorbereiten.«
Das Haus war voller Familienmitglieder. Übermütig wurde Melisande von Bryce und Bryan begrüßt, die sie umarmten und im Kreis herumwirbelten. Alle Kinder und Enkel des Königspaares hatten sich versammelt außerdem zahlreiche andere Verwandte.
Vor der Mahlzeit wurden die Kleinen ins Bett geschickt, und die Erwachsenen nahmen an der Tafel Platz. Es gab reichlich zu essen - Geflügel, Wildschwein- und Rehfleisch, Fische und Sommergemüse. Dazu trank man Wein, Ale und Met. Statt der üblichen vielfältigen künstlerischen Darbietung musizierte nur ein Lautenspieler, und Melisande wusste, warum. Alle würden sich früh zurückziehen, da die Männer am nächsten Morgen zeitig aufbrechen wollten.
Olaf erhob sich als erster und reichte Erin seine Hand. Fast spurlos waren die Jahre an beiden vorübergegangen, und sie bildeten immer noch ein schönes Paar - er goldblond, sie mit ihrem glänzenden rabenschwarzen Haar. Ihre Blicke trafen sich zärtlich, und Melisande schaute schnell weg. Sie bezweifelte nicht, dass sie einander nach der Geburt
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