03 Göttlich verliebt
ihr Vater es nicht schaffte, länger als wenige Augenblicke wach zu bleiben.
Helen versuchte, ihre Gefühle zu analysieren, aber immer wenn sie sich fragte, was sie dabei empfand, dass es ihrem Vater so schlecht ging und niemand etwas dagegen tun konnte, gingen ihre Gedanken auf Wanderschaft.
Es tauchten immer neue Fragen in ihrem Kopf auf – zum Beispiel, wie Louis und seine Kinder den Angriff von Automedon überstanden hatten, wie der Laden nach dem Aufstand wohl aussah und ob jemand im Haus ihres Vaters nach dem Rechten sah und dafür sorgte, dass es nicht geplündert wurde. All diese Fragen waren durchaus logisch, aber sie sollte nicht an diese Dinge denken, wenn das Leben ihres Vaters am seidenen Faden hing.
Sie setzte sich in den Sessel, der am Bett ihres Vaters stand, und fragte sich, was mit ihr nicht stimmte. Wie konnte sie in einer solchen Situation so abgelenkt sein? Sie merkte, wie ihr Bein hektisch wippte, und legte eine Hand auf ihr Knie, doch es brachte nichts. Da sie nicht länger still sitzen konnte, sprang sie auf und begann, auf und ab zu gehen.
»Noch ein paar Schritte, und du läufst ein Loch in den Fußboden«, sagte Lucas von der Tür aus. Helen fuhr mit geballten Fäusten zu ihm herum. Noch mehr Gefühlsstress konnte sie nun wirklich nicht brauchen und wünschte sich ausnahmsweise, dass Lucas wieder verschwand.
Doch Lucas lehnte sich an den Türrahmen und musterte sie. Mit dem Anflug eines Lächelns deutete er mit einem Kopfrucken über seine Schulter.
»Komm mit«, sagte er knapp.
»Wohin?«, fragte Helen trotzig. Sie verschränkte die Arme und funkelte ihn an.
»Nach unten, in den Käfig«, antwortete er, ohne sich von ihrem finsteren Blick einschüchtern zu lassen. Lucas stieß sich vom Türrahmen ab und kam langsam auf Helen zu. Als er vor ihr stand, nahm er ihre Handgelenke, löste ihre krampfhaft angespannten Arme und drückte sie herunter. Dann trat er noch näher an sie heran, bis sie einander fast berührten. »Du musst deine Wut loswerden und auf etwas einschlagen.«
Helen wollte sofort widersprechen, ließ es dann aber doch bleiben. Lucas hatte recht. Sie fühlte sich so nutzlos und hilflos, wenn sie ihren Vater so krank daliegen sah. Inzwischen war sie daran gewöhnt, die härtesten Kämpfe zu bestehen, aber in diesem Kampf war nicht sie die Hauptperson. Es war ihr Vater, und es gab nichts, das sie tun konnte, um ihm zu helfen.
Sie musste wirklich irgendetwas tun, um diese unerträgliche Anspannung loszuwerden, die davon kam, dass sie nur zusehen konnte, wie ihr Vater kämpfte. Und Lucas wusste es, weil er sie so gut kannte. Helen ließ die Arme sinken. Ihre Hüften schwankten leicht in seine Richtung, als wollte sie ihn herausfordern.
»Gehen wir«, sagte sie, und ihre Stimme vibrierte tief in ihrer Brust.
Lucas’ Kiefermuskeln traten hervor, als er die Zähne zusammenbiss. Seine Haut strahlte eine solche Hitze ab, als würde sein Blut kochen. Helen konnte ihn riechen und spüren – Brot im Ofen und frisch gefallener Schnee, heiß und kalt, Sonnenschein und Dunkelheit – lauter Gegensätze, die einander ausschließen sollten, es aber trotzdem schafften, nebeneinander in Lucas zu existieren. Helen schloss die Augen und schwelgte in seinem Duft.
Lucas zerrte sie weg. Er riss hart an ihrem Arm und beendete damit grob diesen besonderen Augenblick. Helen hasste es, wenn er sie so herumschubste, was er zweifellos genau wusste. Sie befreite ihr Handgelenk aus seinem Griff und stieß ihn in Richtung Treppe. Dann rannte sie hinter ihm her und folgte ihm durchs Haus und hinunter in den Kampfkäfig.
Bereits auf den Stufen ins Untergeschoss begannen sie, ihre Kleidung auszuziehen. Im Käfig waren Schuhe, Schmuck, Gürtel und alle harten oder scharfen Gegenstände verboten, aber sie wollten sich nicht die Zeit nehmen, die Sachen, die sie sich so eilig heruntergerissen hatten, durch Sportkleidung zu ersetzen. Jedes Mal, wenn Helen ein Kleidungsstück abstreifte, konnte sie nur noch daran denken, wie sie auf ihn einschlagen würde.
Das Durcheinander »anderer« Helens in ihrem Kopf machte es noch schlimmer. In den meisten ihrer Erinnerungen war er unerreichbar für sie oder knapp außerhalb ihrer Reichweite. Sie war so gereizt, dass sie gar keine Furien mehr brauchte, um ihn töten zu wollen. Und das Geräusch, als er sein Hemd zerriss, sowie das Klatschen des Leders, als er den Gürtel aus der Jeans zerrte, verrieten ihr, dass Lucas diese unmögliche Situation genauso
Weitere Kostenlose Bücher