03 - Hinter dem Schleier der Tr��nen - Mein Abschied vom Harem der Frauen
aus meiner Ruhelage herauszuziehen.
Josh hatte ja Recht! Ich war die Einzige, die bislang vom fröhlichen Klang der Trommeln und Rasseln nicht anzustecken gewesen war. Eingehüllt in Mutters rote Decke, hatte es mir genügt, zuzusehen und Joshs Rassel sanft im Takt zu bewegen. Um ihn nicht zu enttäuschen, gab ich mir einen Ruck und fand mich im Kreis der anderen wieder. Ich schlang die Decke um uns beide. Unser Weihnachtstanz am Feuer im Urwald war nicht sehr schnell.
Aber wunderschön. Es war nicht ganz klar, wer von uns beiden wen führte.
Ich drückte Josh fest an mich und spürte Tränen aufsteigen. Ob aus Freude oder Traurigkeit, wusste ich nicht. Und auch nicht, ob es noch einmal einen Weihnachtstanz mit ihm geben würde.
Die Haremskönigin
Die ruhigen, seit dem Angriff der Hunde vergangenen Wochen hatten mir gut getan. Ich fühlte mich wieder kräftig genug, um wie in meiner Ausbildungszeit lange Wanderungen durch den tropischen Wald zu unternehmen. Auf meinen Stock gestützt, ging ich wie immer langsam und machte viele Pausen; die Schmerzen waren Bestandteil meines Lebens. Ich akzeptierte sie, um mich von meiner Neugier treiben zu lassen.
Unbekannten Düften nachzuspüren und dabei glutvoll leuchtende Pflanzen in verborgenen Winkeln zu entdecken, war eine beinahe vergessene Leidenschaft. Der Regenwald erschien mir wieder wie eine Schatzkammer, die nur mit Muße durchstöbert werden konnte.
Gegen Mittag hörte ich Stimmen. Zu sehen war niemand; der Wald war blickdicht zugewachsen, die Pfade kaum zu erahnen. Ezira war mit ihren Schülerinnen an diesem Tag im Compound geblieben, um ihnen die Herstellung eines Hausmittels gegen Durchfall zu erklären. Ich machte durch lautes Rufen auf mich aufmerksam.
„Wer ist da?“, kam die Gegenfrage. Die Stimme klang wie die einer älteren Frau. Ich vermutete eine der Heilerinnen aus dem Krankenhaus. Vielleicht hatte sie sich verlaufen. Ich nannte meinen Namen.
„Tochter Choga! Ich bin hier!“
Allenfalls Ezira und Buchi nannten mich hier Tochter. Die Stimme, die mich erneut rief, war mir jedoch unbekannt. Sie klang wie die einer sehr alten Frau, zwar geschwächt, aber auch energisch, fast fordernd. Unwillkürlich gefror mir das Blut in den Adern.
Denn ich spürte, dass da jemand kam, den ich lieber nicht treffen wollte.
Andererseits schien die Verirrte Hilfe zu brauchen. Ich riss mich zusammen und suchte den Weg, der irgendwo in der Nähe zwischen Dorf und Compound verlief. Mit meinem Stock schob ich das Unterholz zur Seite und erschrak bis ins Mark!
Im ersten Moment glaubte ich an einen Tagtraum: Mitten im dichten Grün des tropischen Waldes stand eine in kostbare weiße Gewänder gehüllte alte Frau, die sogar einen Schleier trug! Obwohl ihre edlen Stoffe ziemlich verschmutzt und stellenweise eingerissen waren, strahlte die Wanderin jene Würde und Autorität aus, an die ich mich aus den Zeiten meiner Kindheit erinnerte.
„Mama Patty?“, fragte ich zutiefst verblüfft. „Bist du das? Was tust du denn hier?“ Zuletzt hatte ich sie vor fast drei Jahren gesehen, als ich zu Mutters Tod kurz im Harem gewesen war. Sie war zwei Jahre älter als meine Mutter, somit inzwischen Anfang 70. Zwar wirkte sie erschöpft, doch sie schien kerngesund zu sein und hielt sich kerzengerade.
„Ich bin gekommen, um dich zu besuchen, Tochter!“
„Mich?“ Grenzenlos verwundert, sah ich keinen vernünftigen Grund, was die alte Dame zu mir führen mochte. Anders als zu Ada und Bisi hatte ich zu Patty nie ein enges Verhältnis gehabt. Mein Vater hatte seinen Frauen einen bezeichnenden Namen gegeben: Er nannte sie queens. Patty war ihr Leben lang die oberste Königin des Harems gewesen.
Ich wollte sie zur Begrüßung umarmen. Das hielt ich für normal unter diesen Umständen. Schließlich hatte sie gesagt, dass sie meinetwegen gekommen sei. Und die
Reise musste beschwerlich gewesen sein! Sie wich einen halben Schritt zurück, die Augenbrauen hochgezogen, der Blick gebieterisch.
„Verzeihung“, stammelte ich wie ein kleines Kind und kniete vor der alten Frau nieder. Ich hatte die Vorschriften des Respekts, die der Harem gebot, vollkommen vergessen! Zuletzt hatte ich dort vor meiner Zwangsheirat mit Felix mehrere Monate lang gelebt, um auf die Ehe vorbereitet zu werden.
Für mich waren zehn lange Jahre vergangen. Nicht so für die queen, vor der ich das Haupt zu neigen hatte. Selbst im Urwald.
„Gesegnet seist du im Namen von Jesus Christus, Tochter“, sagte die
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