03_Im Brunnen der Manuskripte
Haare. »Aber wo bleiben dann die Konflikte! Wenn ich kein einzelgängerischer Detektiv mehr bin, wo bleiben dann die selbstzerstörerischen Tendenzen und die innere Zerrissenheit, die uns so
interessant machen und die Handlung vorantreiben? Wir
können doch nicht einfach das Schema durchziehen. Schauplatzbeschreibung – Mord – Zeugenaussagen – Verhör – zweiter
Mord – Mutmaßung – Zeugenaussage – Verhör – weitere Mutmaßungen – falsches Ende – dritter Mord – dramatische Wendung – Auflösung – so geht das doch nicht. Wo bleibt denn das
emotionale Interesse, wenn der Detektiv sich nicht in eine
schöne Frau verliebt, die mit dem ersten Mord etwas zu tun
hat? Am Ende müsste ich womöglich gar keine Entscheidung
zwischen meiner Pflicht als Diener der Gerechtigkeit und
meinen privaten Gefühlen mehr treffen.«
»Na und?« sagte ich. »Es gibt doch noch andere Möglichkeiten, eine Geschichte interessant zu machen.«
»Na schön«, sagte er. »Nehmen wir mal an, ich lebe glücklich
und zufrieden mit Madeleine und den Kindern – wo nehme ich
dann eine Nebenhandlung her? Dafür brauche ich einfach
Konflikte.«
Er starrte mich verzweifelt an, aber ich wusste, dass er noch
an sich glaubte. Sonst hätten wir dieses ganze Gespräch nicht
geführt.
»Es müssen doch nicht immer Ehekrisen sein«, sagte ich.
»Wir könnten uns ein paar Nebenhandlungen aus dem Brunnen besorgen und einbauen. Ich gebe zu, dass die Handlung
dann vielleicht nicht immer um Ihre Person kreist, aber –
hoppla, ich glaube, wir kriegen Gesellschaft.«
Ein rosafarbener Triumph Herald hielt neben uns. Eine Frau
mit erstaunlichen Kurven stieg aus, marschierte direkt auf Jack
zu und knallte ihm eine. »Was fällt dir eigentlich ein?« kreischte
sie. »Drei Stunden hab ich in der Sad & Single Wine Bar auf
dich gewartet – was war denn los?«
»Ich hab's dir doch gesagt Agatha. Ich war bei meiner Frau.«
»Na klar«, fauchte sie. »Hör auf mit deinen elenden Lügen!
Wen fickst du denn diesmal? Eine von den kleinen Nutten vom
Bahnhof?«
»Ich hab dir die Wahrheit gesagt«, sagte er leise. »Es ist vor-bei, Agatha.«
»Ach, ja?« sagte sie und richtete ihre wütenden Augen auf
mich. »Ich nehme an, Sie haben ihm das eingeredet, Sie außenländisches Flittchen! Sie kommen hierher mit Ihrem Austausch-Programm und Ihren Allüren und Ihrem Gerede von
Selbstbestimmung und fummeln an unserer Geschichte herum!
Was für eine elende Anmaßung! Typisch für Außenländer wie
Sie.«
Sie stoppte für eine Sekunde, und ihre Augen wurden zu
Schlitzen. »Ihr schlaft miteinander, nicht wahr?«
»Nein«, sagte ich, »und wenn hier nicht bald was passiert,
wird es überhaupt kein Buch geben. Wenn Sie hier rauswollen,
kann ich vielleicht eine Versetzung für Sie arrangieren –«
»Ich glaube, Sie machen es sich etwas zu einfach«, brüllte Agatha mit vor Angst und Wut verzerrtem Gesicht. »Sie denken,
Sie hängen sich einfach ans Fußnotofon, und mit ein paar
Anrufen ist alles erledigt?« Sie zeigte mit einem knochigen
Finger auf mich. »Ich werd Ihnen was sagen, Miss Außenländerin, ich lass mir das nicht gefallen.«
Sie warf uns einen flammenden Blick zu, marschierte zu ihrem Wagen zurück und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
»Na, das war doch ein schöner emotionaler Knatsch«, sagte
ich. »Das reicht für eine hübsche Nebenhandlung, oder?«
Aber Jack fand das gar nicht lustig. »Vielleicht finden Sie ja
noch etwas anderes«, sagte er. »Ich fand es nicht so besonders.
Wissen Sie eigentlich schon, wann die BuchPrüfungsKommission kommt?«
»Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit, danach zu fragen.«
Jack sah auf die Uhr. »Kommen Sie, wir müssen die Szene in
der Boxfabrik spielen. Die wird Ihnen gefallen.
Er schien sehr erleichtert, dass er Agathas Wutausbruch
standgehalten hatte, und wir marschierten zusammen die
rostige Außentreppe der alten Lagerhalle hinauf.
Reading, am Dienstagmorgen. Es hatte die ganze Nacht
geregnet, und die nassen Straßen spiegelten den bleiernen
Himmel. Mary und Jack gingen die gusseiserne Treppe hin-
auf, die zu Mickey Finn's Boxfabrik führte. Eine düstere
Halle, die nach Schweiß und Träumen roch, erwartete sie.
Hier waren die jungen Talente aus der Unterklasse von Rea-
ding beim Sparring, die hofften, sich den Weg zum Erfolg
freizuboxen. Mickey Finn war selbst ein ehemaliger Boxer,
mit zernarbten Augenbrauen und einem ständigen Zittern
im
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