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03_Im Brunnen der Manuskripte

03_Im Brunnen der Manuskripte

Titel: 03_Im Brunnen der Manuskripte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasper Fforde
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und der Dingo schoss aus der Deckung. Sofort
    begannen die automatischen Waffen der Russen zu feuern. Für
    sie waren wir Störenfriede, die einen schönen Überraschungsangriff kaputtgemacht hatten. Bald hörte ich auch das Rattern
    aus der MP des uns begleitenden Soldaten und das abgehackte
    Einzelfeuer aus der Pistole von Landen.
    Der kleine Panzerwagen schleuderte zurück auf den Feldweg
    und preschte im Kugelhagel davon. Während wir Fahrt aufnahmen, hörte ich überall das helle Ping der Geschosse aus
    Handfeuerwaffen, die auf die Panzerung schlugen. Plötzlich fiel
    mir ein schweres Gewicht auf den Rücken, und ein blutiger
    Arm baumelte vor meiner Sichtluke.
    »Weiterfahren!« schrie der Soldat. »Und auf keinen Fall anhalten, bis ich es sage!« Zur Bekräftigung gab er einen weiteren
    Feuerstoß ab, zog das leere Magazin ab, schlug das neue an
    seinen Helm, lud nach und begann wieder zu feuern.
    »Das kann doch nicht sein«, murmelte ich. »So ist es doch
    nicht gewesen.« Der Soldat hatte seine Lebens-und Redezeit
    weit überschritten. Ich musterte die Hand, die vor mir herumbaumelte, und ein schreckliches Angstgefühl überfiel mich. Die
    Tankanzeige war unbeschädigt. Hätte sie nicht kaputtgehen
    müssen, als der junge Soldat starb? Dann wusste ich plötzlich,
    was los war: Der Soldat hatte überlebt, und der Offizier war
    gestorben.

    Ich saß plötzlich senkrecht im Bett, keuchend und schweißbedeckt. Die Intensität meiner Erinnerungen an diesen Tag hatte
    sich im Lauf der Jahre verringert, aber was hier geschehen war,
    stimmte irgendwie nicht. Ich versuchte mich an die Einzelheiten des Traums zu erinnern. Immer und immer wieder ließ ich
    die blutige Hand vor meinem inneren Auge herabfallen. Es war
    alles so schrecklich real.
    Aber es gab da noch etwas. Einen Verlust, den ich mir nicht
    erklären konnte – es fehlte mir etwas, und ich wusste nicht, was
    –
    »Landen«, sagte eine leise Stimme in der Dunkelheit. »Sein
    Name war Landen.«
    »Ja!« schrie ich. »Landen! Sein Name war Landen.«
    »Und er ist nicht auf der Krim gestorben, das war jemand
    anderes. Das war der junge Soldat.«
    »Aber ich hab' ihn doch gerade sterben sehen!«
    »Nein, das war falsch. Dein Gedächtnis hat sich geirrt.«
    Neben mir auf dem Bett saß meine Großmutter in ihrem karierten Nachthemd. Sie hielt ganz fest meine Hand und schaute
    mir über die Brille hinweg in die Augen. Ihr graues Haar hing
    ihr wirr um den Kopf. Ihre Worte halfen mir, mich zu erinnern.
    Landen hatte tatsächlich überlebt. Das bewies schon der Luftschlag, den er angefordert hatte. Trotzdem konnte ich mich
    auch jetzt, im Wachzustand, noch daran erinnern, seine Leiche
    gesehen zu haben. Es machte einfach keinen Sinn.
    »Er ist nicht gestorben?«
    »Nein.«
    Ich nahm das Bild vom Nachttisch, das ich von ihm gezeichnet hatte.
    »Hab' ich ihn noch mal gesehen?« fragte ich, als ich das völlig
    unbekannte Gesicht sah.
    »Oh, ja«, sagte Granny. »Sehr oft. Du hast ihn sogar geheiratet.«
    »Ja, genau, wir haben geheiratet, nicht wahr?« Ich weinte vor
    Erleichterung, als die Erinnerungen zurückkehrten. »In der
    Kirche der Blessed Lady of the Lobster in Swindon! Bist du auch
    da gewesen?«
    »Na, hör mal! Das hätte ich auf keinen Fall verpassen wollen.«
    Ich war trotzdem verwirrt. »Was ist denn aus ihm geworden?
    Warum ist er jetzt nicht bei mir?«
    »Er wurde genichtet«, erklärte mir Granny mit leiserer
    Stimme, »von Goliath und Lavoisier.«
    »Ich erinnere mich«, sagte ich. Es war, als ob in meinem Inneren ein Vorhang weggezogen würde und die Erinnerungen
    hereinströmten. »Jack Schitt. Goliath. Sie haben Landen genichtet, um mich damit zu erpressen. Ich wollte ihn retten, aber ich
    habe versagt. Ich habe ihn nicht zurückholen können – und
    deshalb bin ich jetzt hier.« Ich stockte. »Aber wie konnte ich ihn
    bloß vergessen? Ich hab' doch gestern noch an ihn gedacht. Was
    geht mit mir vor?«
    »Das ist Aornis gewesen, mein Liebling, die jüngere Schwester von Hades. Sie ist ein Mnemonomorph – sie kann Erinnerungen verändern.«
    jetzt fiel es mir wieder ein: Aornis, die kleine Schwester von
    Hades, die seinen Tod rächen wollte; Aornis, die beinahe die
    ganze Welt in rosa Supertraumsoße ertränkt hätte; Aornis, die
    jede Erinnerung an sich aus dem Gedächtnis zu löschen vermochte. Granny hatte den Schleier des Vergessens durchbrochen, der diese gefährliche Feindin verdeckt hatte. Aber Aornis
    war doch nicht aus der BuchWelt.

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