03_Im Brunnen der Manuskripte
Sie lebte in –
»–der wirklichen Welt«, sagte ich. »Wie kann sie denn hier
sein, in einem Roman? Und auch noch in Caversham Heights?«
»Sie ist auch nicht hier«, sagte Granny. »Sie ist nur in deinem
Unterbewusstsein, wie eine Art Virus, der dein Gedächtnis
falsch programmiert. Sie ist ziemlich anpassungsfähig, trickreich und bösartig; außer ihr kenne ich niemanden, der im
Bewusstsein eines anderen Menschen ein unabhängiges Leben
zu führen vermag.«
»Und wie soll ich sie loswerden?«
»Ich habe in meiner Jugend ein paar Erfahrungen mit Mnemonomorphen gemacht, aber mit manchen Dingen muss jeder
selbst fertig werden. Sei auf der Hut, und außerdem werde ich
viel mit dir reden.«
»Das heißt also, der Angriff ist noch nicht vorbei?«
»Nein«, sagte Granny und schüttelte traurig den Kopf. »Ich
wünschte, es wär' so. Ich will dich nicht erschrecken, aber damit
du siehst, wie gefährlich die Sache ist – sag' mir doch Landens
Namen mal vollständig.«
»Sei doch nicht albern. Er heißt Landen Parke –« Ich zögerte,
und eine kalte Furcht griff nach meinem Herzen. Ich musste
mich doch an den Namen meines Ehemannes erinnern?
Aber so sehr ich mich auch bemühte, es wollte mir nicht gelingen. Verzweifelt sah ich meine Großmutter an.
»Ja, ich kenne ihn«, sagte sie, »und ich werde ihn dir nicht
sagen. Aber wenn du dich daran erinnerst, dann weißt du, du
hast gewonnen.«
5.
Der Brunnen der Manuskripte
Obwohl die Idee des Fußnotofons als Kommunikationsmittel bereits von Dr. Faust im Jahre 1622 erwähnt wurde, sollte es bis 1856 dauern, bis das erste funktionierende Fußnotofon vorgestellt werden konnte. Im Jahre 1895 wurde es
versuchsweise in Hard Times installiert, und innerhalb der
nächsten drei Jahre wurde der gesamte Dickens vernetzt.
Das System wuchs rasch, und 1915 wurde mit großem
Pomp die erste gattungsüberschreitende Verbindung zwischen Krimi und großer Tragödie eröffnet. Seitdem hat man
das Netz ununterbrochen verbessert, aber neuerdings sind
die Leitungen durch die Deregulierung der Nachrichten-und Unterhaltungskanäle und eine Fülle von WerbeAnrufen ständig verstopft. Ein erstes mobiles FußnotofonNetz wurde 1985 eingerichtet.
DER WARRINGTON-KATER, ehemals CHESHIRE CAT,
– Führer zur Großen Bibliothek
Granny war eigens früh aufgestanden, um mir mein Frühstück
zu machen, aber als ich gegen neun Uhr aufwachte, fand ich sie
im Tiefschlaf im Sessel. Der Wasserkessel war auf dem Herd
festgeschmolzen, und Pickwick hatte sich rettungslos in Grannys Strickzeug verheddert. Ich kochte mir einen Kaffee und
machte mir Frühstück, obwohl mir eigentlich schlecht war.
ibb und obb kamen einen bisschen später in die Küche gewandert und erklärten, sie hätten »wie tote Menschen« geschla-fen und seien so hungrig, dass sie »ein Pferd zwischen zwei
Matratzen fressen« könnten. Sie waren gerade dabei, Bohnen,
Toast, Eier und Speck zu verputzen, als es an die Tür klopfte.
Es war der Rechtsanwalt Akrid Snell, die zweite Hälfte der
Krimi-Serie Perkins & Snell. Er war ungefähr vierzig, trug einen
feschen braunen Anzug mit passendem Filzhut und einen
struppigen roten Schnauzbart. Er arbeitete für Jurisfiktion und
war beauftragt, mich in dem Verfahren wegen Jane Eyre zu
vertreten. Der Anklagevertreter war nämlich der Ansicht, ich
hätte mich des Eingriffs in ein literarisches Kunstwerk schuldig
gemacht, als ich – selbstverständlich in Notwehr – das Ende des
Romans änderte.
»Hallo!« sagte er. »Willkommen in der BuchWelt.«
»Danke, geht's Ihnen gut?«
»Absolut Spitze! Ich habe gerade für Ödipus einen Freispruch in dieser Inzest-Sache erreicht. Er wusste ja zum Zeitpunkt der Tat nicht, dass sie seine Mutter war.« . .
Er sah sich mit gerunzelter Stirn in der abgewrackten Sunderland um.
»Tja!« sagte er schließlich. »Sie treffen schon ziemlich eigenwillige Entscheidungen, nicht? Ich habe gehört, ein Stückchen
weiter im Regal wird gerade die neueste Daphne-FarquittSchnulze gebaut. Sie spielt im achtzehnten Jahrhundert, wäre
die nicht ein bisschen komfortabler als dieses … Wrack? Ach,
übrigens, haben Sie vielleicht die Rezension meines letzten
Buches gesehen?«
Er meinte damit natürlich den Krimi, in dem er mitspielte.
Snell war vom Scheitel bis zur Sohle völlig fiktiv – und wie alle
fiktiven Charaktere litt er ein bisschen darunter. Ich hatte den
ätzenden Verriss zu Pistolen-Pomade tatsächlich gelesen,
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