03_Im Brunnen der Manuskripte
Tabularasa hin ich an die Dupin-Detektivschule
gegangen. Ich habe Praktika in den Werken von Hammett,
Chandler und Sayers gemacht und habe schließlich an der
Krimi-Fakultät der Agatha-Christie-Universität mein Examen
gemacht. Ich wäre wirklich gern ein Original geworden, aber
dazu bin ich leider siebzig Jahre zu spät geboren.«
Er dachte einen Augenblick nach. Es tat mir leid, dass ich die
Frage gestellt hatte. Es war sicher nicht einfach, ein Verschnitt
von allen möglichen früher geschriebenen Dingen zu sein.
»Na, gut«, sagte er und trank seinen Kaffee aus. »Können wir
zu unserer kleinen Tour aufbrechen?«
Ich nickte.
»Na, dann los.« Er nahm meine Hand und transponierte uns
aus Caversham Heights auf die endlosen Korridore des Brunnens.
Der Brunnen der Manuskripte war von der Anlage her durchaus vergleichbar mit der Großen Bibliothek – dunkles Holz,
dicker Teppich, reihenweise Regale – aber damit endete die
Ähnlichkeit auch schon. Vor allem war es sehr laut hier. Lieferanten, Handwerker, Ingenieure und Rohlinge liefen durch die
Korridore, tauchten auf und verschwanden, bewegten sich in
dieses Buch und jenes, bauten hier etwas auf und dort etwas ab,
änderten, zerlegten und demolierten ganz nach den Wünschen
der Autoren. Überall standen halboffene Kisten mit Einzelheiten, und viele Bewohner arbeiteten, aßen und schliefen in
halbfertigen Häusern, Baracken und Notunterkünften. Zahllose
Anschlagtafeln, Litfaßsäulen und Plakate machten Reklame für
Konversationslexika, Schriftbilder, Reime, Spezialwörterbücher,
Erzähltechniken, Versformen und Tausende von anderen
literarischen Hilfsmitteln und Tricks. 5
»Herrje, ich glaube, ich empfange schon wieder FußnotofonJunkmail im Kopf«, sagte ich und hob die Stimme, um das
Getöse zu übertönen. »Muss ich mir Sorgen machen?«
»Ach, diese Werbesendungen kriegt man hier unten dauernd. Einfach ignorieren – und geben Sie auf keinen Fall Ketten-Fußnoten weiter.« 6
Ein stämmiger Mann, der Reklametafeln auf Rücken und
Bauch trug, versuchte, uns Handzettel aufzudrängen, die »kernige Sprüche für den energischen Textschmied« versprachen.
»Nein, danke«, sagte Snell hastig und zog mich weiter zu einer etwas stilleren Ecke zwischen der Lyrische-AugenblickeBoutique und der Klause zum Kapitelende.
»Wir haben sechsundzwanzig Stockwerke im Brunnen«, sagte er und zeigte auf die durcheinander hastende Menge. »Die
meisten sind chaotische Romanfabriken, aber das unterste
Stockwerk hat einen direkten Zugang zur TextSee – irgendwann
müssen wir mal da runtergehen und zusehen, wie sie morgens
die KritzelKutter entladen.«
»Was entladen die denn?«
»Na, Wörter natürlich« – Snell lächelte – »Wörter, Wörter
und noch mal Wörter. Die Grundbausteine der Literatur, die
DNA der Geschichten.«
5 »… Besuchen Sie Aarons Althergebrachten Alliterations Apparat, den
besonders blumigen Beschaffer stilvoller Stabreime seit dem 16. Jahrhundert.«
6 »… Besuchen Sie Bills Dictionorium! Hier finden Sie jedes Wort, das Sie je
brauchen werden! Von Aalsuppe bis Zytotoxizität – wir haben Wörter für
alle Handlungsbedürfnisse. Sie finden uns im zwölften Stock, Regal 78 …«
»Aber man sieht gar nicht, dass irgendwelche Bücher geschrieben werden«, sagte ich und zeigte auf unsere Umgebung.
»Ach, die Außenländer!« Er lachte. »Bücher sehen tatsächlich
harmlos genug aus: Wörter auf weißem Papier, aber in Wirklichkeit sind sie eine äußerst komplexe Übertragungstechnologie, bei der kuriose schwarze Schnörkel zu Bildern in Ihrem
Kopf werden. Gewaltige Storycode-Maschinen in der TextZentrale projizieren die Bilder ins Außenland und übertragen sie so
ins Bewusstsein der Leser. Gegenwärtig benutzen wir BOS V8.3
– aber nicht mehr lange – TextGrandCentral will das Betriebssystem upgraden.«
»Ja, richtig. In den Nachrichten war gestern von etwas die
Rede, das sie UltraWord™ nennen.«
»Blöder Schicki-Micki-Name. Eigentlich ist es Book V9.
WortMeister Libris wird es uns demnächst vorstellen. UltraWord™ wird gegenwärtig getestet. Wenn es so gut ist, wie sie
sagen, wird das ein gewaltiger Durchbruch für die BuchWelt.«
»Mmmh«, sagte ich seufzend. »Irgendwie dachte ich immer,
Romane würden halt so geschrieben.«
»Schreiben ist nur das Wort, mit dem wir den Aufnahmevorgang bezeichnen«, erwiderte Snell, während wir weitergingen.
»Der Brunnen der Manuskripte ist die
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