03_Im Brunnen der Manuskripte
Schnittstelle, wo die
Vorstellungen des Autors mit den Personen, der Handlung und
der Erzählperspektive zusammengeführt werden, damit der
Leser das Ganze am Ende versteht. Schließlich ist Lesen ein
äußerst schöpferischer Vorgang, der die Vorstellungskraft sehr
beansprucht. Vielleicht sogar noch mehr als das Schreiben.
Wenn sie Gefühle in ihren Köpfen entstehen lassen, wenn sie
die Farben eines Sonnenuntergangs vor ihrem inneren Auge
erzeugen oder dahin kommen, dass sie eine frische Brise auf
ihrer Haut spüren, dann leisten die Leserinnen und Leser eine
ganz erstaunliche Vorstellungsarbeit und verdienen mindestens
so viel Lob wie der Autor – wenn nicht sogar mehr.«
Das war ein verblüffender Ansatz, und ich musste die Idee
erst einmal etwas einwirken lassen.
»Meinen Sie wirklich?« fragte ich, noch etwas unsicher.
»Ja, natürlich«, sagte Snell lachend. »Wellen, die auf den
Strand schlagen – das würde doch überhaupt nichts bedeuten,
wenn Sie es nicht vor sich sähen, wenn Sie nicht wüßten, wie es
sich anfühlt, wenn der Boden unter den Brechern zittert.«
»Ja, wahrscheinlich nicht.«
»Bücher«, sagte Snell lächelnd, »sind eine Art Zauberei.«
Ich dachte darüber nach, was er gesagt hatte, während ich die
Arbeit um mich herum beobachtete. Mein Mann war – oder ist
– Schriftsteller, und ich hatte immer schon wissen wollen, was
in seinem Kopf vorging. 7
Beim Weitergehen kamen wir an einem Laden für Zeitangaben vorbei, der Bald darauf hieß. Er hatte gerade ein Sonderangebot Kleine Pausen und Wechsel der Jahreszeiten. »Was passiert eigentlich mit Büchern, die nicht veröffentlicht werden?«
fragte ich, weil ich herausfinden wollte, ob die Gefahr für die
Figuren in Caversham Heights wirklich so groß war.
»Die Durchfallquote ist hoch«, musste Snell zugeben, »und
meistens liegt es an mangelnder Qualität. Aber nicht immer.
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Bunyan's Bootscraper von John McSquurd ist eins der besten
Bücher, die je geschrieben wurden, aber der Autor gibt es
einfach nicht aus den Händen. Das meiste, was nicht fertig
gestellt oder immer wieder abgelehnt wird, bleibt so lange hier
unten, bis es auseinandergenommen und anderweitig benutzt
wird. Manche Texte sind allerdings so schlecht, dass sie verschrottet werden müssen: Die Wörter werden von den Seiten
genommen und in die Text-See geworfen.«
»Die Figuren werden recycelt wie Altpapier oder Pappe?«
Snell zögerte und hustete schließlich. »Ich würde mich wegen
der Eindimensionalen nicht weiter beunruhigen, Thursday. Wir
haben einfach nicht genug Zeit und Ressourcen, um sie zu recharakterisieren.«
»Mr Snell, Sir?«
Ein junger Mann in einem teuren Anzug stand vor uns. Er
hatte einen fleckigen Kissenbezug in der Hand, in dem sich ein
schwerer Gegenstand von der Größe einer Melone befand.
»Hallo, Alfred!« sagte Snell und schüttelte dem Mann die
Hand. »Thursday, das ist Garcia. Er hat die Perkins-&-SnellSerie schon seit zehn Jahren mit spannenden Requisiten versorgt. Erinnern Sie sich noch an die unbekannte Wasserleiche
im Humber in Dead Among the Living? Oder an die im Gästezimmer eingemauerte zwanzigjährige Blondine mit dem Geldkoffer in Requiem for a Safecracker?«
»Aber natürlich!« versicherte ich und schüttelte dem Techniker die Hand. »Hervorragendes Spannungsmaterial. Wie geht's
Ihnen?«
»Danke, gut«, sagte Garcia, lächelte höflich und wandte sich
dann wieder Snell zu. »Ich habe gehört, Ihr nächster Roman ist
gerade in Vorbereitung, und ich hätte da etwas, was Sie vielleicht interessiert.«
Er hielt den Sack auf, und wir blickten hinein. Es war ein
Kopf. Das heißt, ein abgeschnittener Kopf.
»Ein Kopf in einem Sack?« fragte Snell stirnrunzelnd.
»Allerdings«, sagte Garcia stolz. »Aber nicht irgendein blöder
Kopf. Dieser hier hat eine rätselhafte Tätowierung im Nacken.
Sie können ihn in einem Mülleimer finden oder direkt vor
ihrem Büro oder in der Tiefkühltruhe eines Verdächtigen oder
… es gibt einfach endlose Möglichkeiten dafür.«
Snells Augen begannen zu leuchten. Nachdem sein letztes
Buch von der Kritik so gnadenlos niedergemacht worden war,
konnte er ein bisschen Aufmunterung brauchen. »Was
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