03_Im Brunnen der Manuskripte
der Ohrring seine Gestalt
veränderte, immer länger und länger wurde, bis er eine Oper
war und eine ganze Woche lang dauerte. Gleichzeitig hörte ich
eine immer lauter werdende Musik. Ich glaube, es war was von
Wagner, aber ich war mir nicht sicher.
»Der Vyrus arbeitet subtextuell und verzerrt die Bedeutung
des Wurtes«, erklärte Perkins und zog die Oper wieder heraus,
die sich alsbald in einen Ohrring zurückverwandelte. »Der
Schreibfehler entsteht aufgrund der Verzerrung.«
Er stellte den Glasbehälter vorsichtig zurück in den DiktoSafe.
»Der Schreibfehler ist also nur ein Symptom der Bedeutungsverzerrung?«
»Genau. Der Vyrus war weit verbreitet, bis Agent Johnson
1744 sein Wörterbuch vorlegte. Heute halten ihn LaviniaWebster und der Oxford English Dictionary in Schach. In Frankreich ist er schon lange ausgestorben, und sogar in Deutschland
hatte der verdienstvolle Agent Konrad Duden ihn nahezu
gänzlich unter Kontrolle gebracht. Aber in letzter Zeit hat eine
Clique von größenwahnsinnigen Qmiehs einen NeuSchreibVyrus in Umlauf gebracht, der gegen jede Vernunft resistent ist
und auch schon einige literarische Werke zerstört haben soll.
Die Deutschen können einem schon leid tun. Neulich stand ein
ganzes Rudel am Tor und hat nach verloren gegangenen Adverbien gesucht. Ich hab' sie natürlich nicht reingelassen. Man
konnte gleich sehen, dass sie schwere Regelwut hatten. Man
kann gar nicht vorsichtig genug sein. Auch heute noch sollte
jedweder Schreibfehler dem Kater gemeldet werden. Am besten
auf einem S-12-Formular.«
»Ja, ja«, sagte ich. »Schreibe recht und scheue niemand.«
Perkins warf mir einen misstrauischen Blick zu, aber in diesem Augenblick ertönte draußen ein kräftiges Hupen.
»Das wär's für heute!« lächelte Perkins erleichtert. »Das muss
Miss Havisham sein.«
Miss Havisham war nicht allein. Sie saß in einem riesigen
Automobil, dessen Motorhaube ungefähr drei Meter lang war.
Die großen, ungeschützten Speichenräder hatten eine dünne,
erschreckend unbrauchbar aussehende Bereifung. Rechts und
links quollen jeweils vier chromblitzende Auspuffrohre heraus,
die sich zu einem vereinigten, das an der vollen Länge der
Karosserie entlang führte. Das Heck des Fahrzeugs war zugespitzt wie ein Schiffsrumpf, und kurz vor den Hinterrädern
saßen zwei große Zahnräder, die dazu dienten, mit Hilfe von
Ketten die Kraft auf die Hinterachse zu übertragen. Es war ein
furchterregendes Biest: der 27-Liter Higham Special.
8.
Hundertsechzig auf der A419
Louis Zborowski war der Sohn eines polnischen Adligen
und einer amerikanischen Mutter. Er lebte in Higham Place
in der Nähe von Canterbury und baute Automobile. Drei
davon nannte er Chitty Bang Bang. Das vierte war der Higham Special, den er und Clive Gallop aus einem Chassis von
Rubery Owen entwickelten. Der Higham Special hatte einen
27-Liter-Flugzeugmotor und ein Getriebe von Benz. Als
Zborowski 1924 am Steuer eines Mercedes in Monza starb,
hatte der Special schon Runden mit 116 Meilen pro Stunde
in Brooklands gefahren, aber sein ganzes Potenzial war
noch nicht bekannt. Für kurze Zeit war der Wagen im Besitz einer Dame, deren Identität nicht bekannt ist, dann
wurde er an den Ingenieur Parry Thomas verkauft, der ihn
noch einmal modifizierte und schließlich im Jahre 1926 auf
den Pendine Sands in South Wales einen neuen Geschwindigkeitsrekord von 170,624 Meilen pro Stunde aufstellte.
REVEREND MR. TOREDLYNE
– Geschwindigkeitsrekorde zu Lande
»War sie unartig, Mr Perkins?« brüllte Miss Havisham.
»Nein, überhaupt nicht«, sagte Perkins und zwinkerte mir zu.
»Sie ist sehr aufmerksam gewesen.«
»Na ja«, knurrte Miss Havisham, »man soll die Hoffnung nie
aufgeben. Einsteigen, Mädel! Wir müssen weiter.«
Ich zögerte. Ich war schon früher mit Miss Havisham gefah-ren, und das in einem Fahrzeug, das ich für relativ sicher hielt.
Aber dieses Ungeheuer von einem Auto sah aus, als ob es einen
zweimal umbringen könnte, noch ehe man im zweiten Gang
war.
»Worauf wartest du, Mädchen?« fragte Miss Havisham ungeduldig. »Wenn ich den Wagen noch länger im Leerlauf lasse,
werden die Zündkerzen rußig. Außerdem brauche ich den
Treibstoff für meinen Testlauf.«
»Den Testlauf?«
»Keine Bange!« schrie Miss Havisham und ließ den Motor
aufheulen. Das Drehmoment ließ den Wagen erzittern, und ein
tiefes Knurren erfüllte die Luft. »Da wirst du nicht an Bord sein
– dich
Weitere Kostenlose Bücher