03_Im Brunnen der Manuskripte
einem Jahr jedes zweite
Wort rabbit ist. Aber Lennie hat einen Riesenspaß, wenn er
herkommt.«
Wir gingen einen Fußweg zu einer verfallenen Burgruine
hinauf. Die Zugbrücke war in den ausgetrockneten, von Brombeeren überwucherten Wassergraben gefallen, und Gras bedeckte die Trümmer des Falltors. Über uns umkreisten schwarze Vögel den Burgfried.
»Das sind keine Vögel«, sagte Perkins und gab mir einen
Feldstecher. »Sehen Sie selbst.«
Ich starrte zu den vermeintlichen Vögeln hinauf und entdeckte, dass sie auf Flügeln aus dünn gespannter Haut dahinsegelten. »Parenthiums?«
»Sehr gut. Ich habe sechs Brutpaare hier – ausschließlich zu
Forschungszwecken natürlich. Die meisten Bücher können
vierzig ohne größere Schäden verkraften – nur wenn die Popu-lation zu groß wird, müssen wir was unternehmen. So ein
Grammasiten-Schwarm kann ziemlich katastrophal sein.«
»Ich weiß. Ich wäre selbst beinahe –«
»Achtung!« Er stieß mich beiseite, und ein dicker Klumpen
Exkremente schlug an der Stelle ein, wo ich gerade noch gestanden hatte. Ich sah an der Burgmauer hoch und entdeckte
einen Tiermenschen mit einem dunklen Zottelfell, der auf uns
herabsah und grunzte.
»Ein Yahoo«, erklärte Perkins verächtlich. »Sie benehmen
sich unmöglich und lassen sich leider auch überhaupt nicht
erziehen.«
»Aus Gullivers Reisen?«
»Genau. Wenn wirklich originelle Werke wie die von Jonathan Swift zu neuen Büchern gemacht werden, werden immer
ein paar Figuren zu Forschungs-und Züchtungszwecken dupliziert. Richtige Personen können umerzogen werden, aber
Geschöpfe landen meist hier. Yahoos mag ich auch nicht besonders, aber sie sind relativ harmlos. Am besten ignoriert man sie
einfach.«
Wir schritten rasch durch den Torbogen, um weiteren Geschossen aus dem Weg zu gehen, und betraten den Innenhof,
wo ein Zentaurenpaar friedlich graste. Sie hoben die Köpfe,
lächelten, winkten und ästen weiter. Ich bemerkte, dass der eine
Kopfhörer aufhatte und aus einem Walkman Musik hörte.
»Sie haben Zentauren hier?«
»Zentauren und Troglodyten, Faune, Chimären, Elfen, Feen,
Dryaden, Sirenen, Marsbewohner, Kobolde, Harpyen, Aliens,
Daleks, Trolle – was immer Sie wollen.« Perkins lächelte. »Im
Bereich Fantasy gibt es sehr viele unveröffentlichte Romane,
und in den meisten gibt es mythologisches Viehzeug. Jedesmal,
wenn so ein Roman demoliert wird, gehe ich runter zum
Schrottplatz. Es wäre ja schade, wenn solche Geschöpfe einfach
in der TextSee landen würden, nicht wahr?«
»Haben Sie auch ein Einhorn?«
»Eins?« seufzte Perkins. »Säcke voll! Ich weiß schon gar nicht
mehr, was ich mit den vielen Einhörnern anfangen soll. Ich
wünschte, die Autoren wären etwas verantwortungsbewusster.
Ich kann ja verstehen, dass Kinder darüber schreiben, aber
Erwachsene sollten es besser wissen. Jedes Einhorn aus jeder
nicht gedruckten Geschichte landet am Ende hier. Ich wollte
schon Aufkleber drucken lassen: Ein Einhorn ist kein Gag für
Seite 27! Was meinen Sie?«
»Ich glaube, Sie werden die Leute nicht daran hindern können, darüber zu schreiben. Wie wär's, wenn Sie den Tieren die
Hörner abnehmen und sie in Pferdebüchern unterbringen?«
»Das will ich nicht gehört haben«, erwiderte Perkins empört
und fügte hinzu: »Wir haben auch Drachen. Wir hören sie
manchmal nachts, wenn der Wind richtig steht. Und falls
Pellinore jemals das Questing Beast fängt, wird es auch hierher
gebracht werden. Aber ich hoffe sehr, das dauert noch eine
Weile. Vorsichtig, treten Sie nicht in die Orc-Scheiße. Sie sind
eine Außenländerin, nicht wahr?«
»In der Tat.«
»Hat da draußen eigentlich jemand gemerkt, dass Schnabeltiere und Seepferdchen fiktional sind?«
»Ach, sind sie das?«
»Natürlich. Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, dass so
etwas Verrücktes auf dem Weg der Evolution entstanden sein
könnte? Ach, übrigens, wie finden Sie Miss Havisham?«
»Ich mag sie sehr.«
»Das tun wir alle. Ich glaube, sie mag uns auch, aber das
würde sie niemals zugeben.«
Wir waren beim Burgfried angekommen, und Perkins stieß
die Eingangstür auf. Im Inneren befanden sich sein Büro und
das Laboratorium. An der einen Wand standen Regale mit allen
möglichen Präparaten, und auf dem Tisch lag ein partiell sezierter Grammasit, in dessen Eingeweiden halbverdaute Wörter
steckten.
»Ich weiß immer noch nicht, wie sie es machen«, sagte Perkins und schubste den Kadaver
Weitere Kostenlose Bücher