03 - komplett
fragte sie erneut.
„Er war bewusstlos, als ich Hertfordshire verließ. Der Arzt kümmert sich um ihn“, antwortete Guy rasch, bemüht, seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen. „Ich bin sicher, er wird bald genesen und eine Beschreibung seines Angreifers geben können.“
Er hat ihn besinnungslos geschlagen, vielleicht sogar versucht ihn zu töten, damit er ihn nicht als den Übeltäter bloßstellen kann, der er war, dachte Sylvie entsetzt. Oh, John, bitte werde wieder gesund, betete sie stumm. Laut sagte sie: „Ich werde mich eine Weile auf mein Zimmer zurückziehen.“
Mühsam die Tränen zurückhaltend, ging sie zur Tür. Flüchtig suchte sie Adams Blick, bevor sie die Augen auf ihre Schwester richtete.
„Bitte entschuldigt mich. June, ich würde gerne eine Weile allein sein.“ Rasch drehte sie sich um und verließ fluchtartig das Zimmer.
Das Klopfen an der Tür wurde immer lauter und hartnäckiger. „Öffne die Tür, Sylvie“, rief June. „Ich mache mir Sorgen um dich. Du hast seit gestern dein Zimmer nicht mehr verlassen. Hier, ich habe dir eine Tasse Tee mitgebracht. Lass mich ein.“
Sylvie rieb sich die brennenden, rot geweinten Augen und setzte sich im Bett auf.
Einige der Falten in ihrem Kleid konnte sie mit der Hand glätten, während sie zur Tür ging und aufschloss.
„Ich muss nach Hause fahren“, sagte sie verzweifelt, als June mit dem Teetablett ins Zimmer trat.
„Du kannst nichts für ihn tun, Sylvie!“, erwiderte June. „Du würdest dir selbst nur noch mehr Kummer bereiten, weil es dir sicher nicht gestattet sein wird, John zu sehen. Ich glaube nicht, dass seine Eltern dir eure Eskapade bereits verziehen haben und nun dies.“ Sie seufzte, bevor sie beschwichtigend hinzufügte: „Warum wartest du nicht, bis wir weitere Nachrichten aus Hertfordshire haben? Ich bin sicher, John ist bereits auf dem Wege der Besserung. Und vielleicht haben die Behörden auch bald Erfolg mit ihren Ermittlungen.“
Ein bitteres Lachen unterbrach June. „Sie verschwenden ihre Zeit. Dieser Teufel wird seine Spur gut verwischt haben.“
„Dessen kannst du dir nicht sicher sein, Sylvie.“ Inständig bemühte sich June, ihre Schwester zu trösten. „Dieser feige Schurke war sicher mehr daran interessiert, mit dem erbeuteten Geld zu fliehen.“ Da Sylvie sie fragend anblickte, erklärte sie: „Guy hat mir gestern, als er sich verabschiedete, noch erzählt, dass man John vermutlich wegen der wenigen Schillinge, die er bei sich trug, zusammenschlug. Frank Vance sagte, John habe in der Stadt Vorräte einkaufen wollen. Doch sein Ziel hat er nie erreicht und das Geld fehlte, als man ihn am Straßenrand fand.“
„Vielleicht hat man die Münzen nur genommen, um den Anschlag wie einen Diebstahl aussehen zu lassen“, sagte Sylvie.
June schaute sie verwundert an. „Aber wer sollte John verletzen wollen? Er schien mir immer ein gutmütiger Bursche zu sein. Ich hätte nicht gedacht, dass er Feinde hat.“
Da ihre Schwester schwieg, wurde June hartnäckiger. „Weißt du von irgendwelchen Feinden?“
Sylvie hob die Hände vors Gesicht. Niemand wusste von dem Rachefeldzug, den Hugo Robinson gegen sie und John führte. Das letzte Mal, als John von ihm zusammengeschlagen worden war, hatte er behauptet, er sei vom Pferd gefallen, um seine Verletzungen zu erklären. John hatte gelogen, um sie zu schützen, denn Hugo hatte John damit gedroht, dass er sie büßen lassen würde, wenn man ihn verriet.
Doch die Sache zu vertuschen war vergebens gewesen, denn er hatte sie ohnehin büßen lassen, weil sie versucht hatte, ihren Freund vor ihm zu schützen.
Sie hatte nicht einer Menschenseele die Demütigung anvertraut, die sie durch Hugo erlitten hatte. Selbst June, der sie sehr nahestand, wusste nicht, warum sie den Sohn ihrer Nachbarn dermaßen hasste. Gelegentlich hatte sich Sylvie danach gesehnt, ihre Last mit jemandem teilen zu können, doch sie zögerte, weil sie wusste, dass June und William keine Geheimnisse voreinander hatten. Wenn William von der Misshandlung erfuhr, die seine Schwägerin erlitten hatte, würde er diese Schandtat gewiss nicht ungesühnt lassen wollen.
Mit ihrem Geständnis würde sie allen nur Kummer bereiten. Es war nicht auszuschließen, dass ihr Vater vor Aufregung einen weiteren Herzanfall erlitt, und sie konnte sich ausmalen, wie sehr die Demütigung, die ihr widerfahren war, ihrer armen Mama zusetzen würde. Die neugierigen Fragen und das boshafte Geschwätz, das einem
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