03 - komplett
solchen Skandal folgte, würden ihre Eltern zugrunde richten. Und nicht nur ihre Eltern, auch Sir Anthony und Lady Robinson. Sylvie wollte indes nicht, dass diese beiden freundlichen Menschen, die sie sehr mochte, die Konsequenzen für die verderbten Schandtaten ihres Scheusals von einem Sohn tragen mussten. Außerdem plagte sie das schlechte Gewissen. Lag die Schuld für seine brutale Behandlung nicht in Wahrheit gar bei ihr, so wie Hugo behauptete? Hatte ihr ungestümes, kokettes Verhalten ihn tatsächlich zu seinen lüsternen Handlungen verleitet?
Sylvie spürte die Hand ihrer Schwester auf ihrem Arm und riss sich aus ihren Gedanken. „Verdächtigst du jemanden?“, fragte June leise.
Rasch schüttelte Sylvie den Kopf.
June seufzte erleichtert und schenkte den Tee ein. „Ich bin heute Nachmittag zum Tee bei Lady Forster eingeladen, aber mir ist nicht danach, mich in Gesellschaft zu begeben. Ich denke, ich werde ihr eine Nachricht schicken und mich entschuldigen.
Ich bleibe lieber bei dir ...“
„Du musst aber gehen“, unterbrach Sylvie mit einem gezwungenen Lächeln. „In meiner derzeitigen trüben Stimmung bin ich ohnehin keine gute Gesellschafterin, da ist es besser, wenn ich allein bin. Vielleicht gehe ich nachher ins Kinderzimmer und spiele mit Jacob, um mich ein wenig aufzuheitern.“
Nun war es June, die flüchtig lächelte. „Die Zähnchen sind immer noch nicht ganz durch und quälen ihn, aber vielleicht lenkt es ihn ab, dich zu sehen. Ich werde nicht lange bei Lady Forster bleiben. Es ist mir verhasst, meinen Sohn allein zu lassen, wenn es ihm nicht gut geht.“
Ein Klopfen an der Tür riss Sylvie aus ihrem Schlummer. Sanft legte sie ihren dösenden Neffen in die Wiege, die neben der Chaiselongue stand. Dann erhob sie sich unwillig aus den Kissen, gerade in dem Augenblick, als Molly ins Zimmer trat.
Mit Blick auf das schlafende Kind meinte das junge Kindermädchen flüsternd: „Ein Gentleman möchte Ihnen seine Aufwartung machen, Miss.“
„Wer ist es, Molly?“ In dunkler Vorahnung ballte Sylvie die Hände zu Fäusten; sie befürchtete, dass Guy mit schlechten Nachrichten aus Hertfordshire zurückgekommen war.
Stirnrunzelnd versuchte sich die junge Frau an den Namen zu erinnern, den der Butler ihr genannt hatte. „Ein Mr. ... Hugo Robinson, ja, das hat Mr. Herbert gesagt, Miss.“
Erschrocken zuckte Sylvie zusammen, worauf Molly sie verwundert ansah. „Geht es Ihnen gut?“
Sylvie nickte, während in ihrem Kopf fieberhaft die Gedanken kreisten. Am liebsten hätte sie ihn fortschicken lassen. Der Gedanke, mit Hugo Robinson im selben Raum zu sein, bereitete ihr Übelkeit. Indes hatte sie keinen Beweis, dass er etwas mit Johns Verletzungen zu tun hatte. Sie war ebenso erstaunt, zu erfahren, dass er in der Stadt war, wie darüber, dass er die Unverschämtheit besaß, sie zu besuchen. Vielleicht war er schon eine Weile in London und hatte ein Alibi für die Zeit des schäbigen Verbrechens, dessen sie ihn verdächtigte. Hier bot sich ihr die Gelegenheit, die Wahrheit zu entdecken, und um Johns willen musste sie den Mut fassen, diese zu nutzen. Sie schaute zu Molly, die sie neugierig musterte.
„Bitte sag Mr. Herbert, dass ich gleich hinunterkomme.“
Als sie in ihrem eigenen Zimmer war, sank Sylvie mit gebeugtem Kopf aufs Bett.
Wieder standen ihr Bilder von Johns geschundenem Gesicht vor Augen. Schon einmal hatte sie ihn verletzt und blutend gesehen, und damals hatte es keinen Zweifel daran gegeben, wer an seinen Verletzungen die Schuld trug. Plötzlich war sie davon überzeugt, dass dieser bösartige Mensch, der nun unten auf sie wartete, gekommen war, um sie mit dem, was er getan hatte, zu quälen. Er wiegte sich in Sicherheit, wusste er doch, dass sie zu eingeschüchtert war, um ihn zu verraten.
Erneut kamen ihr seine Drohungen von dem Abend der Soiree der Robinsons in Erinnerung: Ich schlage ihn gleich morgen zum Krüppel, wenn du dadurch zu mir kommen wirst ...
Unvermittelt fühlte Sylvie Wut, und sie sprang auf. Rasch ging sie zur Frisierkommode und richtete ihr Haar. Nicht, dass ihr auch nur einen Deut daran lag, Hugo mit ihrem Aussehen zu beeindrucken, doch sie wollte nicht, dass er bemerkte, wie elend es ihr ging. Hatte er dieses Verbrechen tatsächlich begangen, würde er sich in Genugtuung sonnen, wenn er wüsste, welch großen Kummer er ihr damit bereitete. Sie kniff sich in die Wangen, um ein wenig Farbe hineinzubringen, und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann
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