03 - Schatten Krieger
»Dein Kaiser belagert West-Belkiol und baut Kriegsmaschinen, mit denen er die Mauern niederreißen will. Du sagst ihm, dass die Stadt leer ist und alle über die Kreuzung nach Ost-Belkiol geflohen sind.« Wut brannte in seinem Blick. »Tu das, oder es ergeht deinen Freunden wie dem Hund.«
Er war ihr so nah, dass sie seinen ranzigen Atem und den Gestank seines nassen Pelzmantels riechen konnte. »Der Kaiser wird mir nicht glauben.« Ayoni versuchte verzweifelt, den Mogaun zu überzeugen. »Wir sind erst gestern vor seinen Soldaten geflüchtet! Warum sollte er auch nur einem einzigen meiner Worte trauen?« »Du musst ihn und seine Schergen dazu bringen, dir zuzuhören und dir zu glauben!«, beharrte er. »Finde einen Weg, sonst…«
Ayoni hatte das Gefühl, als wäre ihr Verstand im Maul eines Untiers gefangen. Sie kämpfte gegen die Verzweiflung an, die sie zu überwältigen drohte, senkte den Kopf, um die Tränen wegzublinzeln, und versuchte, ihre wirren Gedanken zu ordnen. Schließlich straffte sie sich und sah den Hünen an.
»Ich werde tun, was Ihr verlangt«, sagte sie mit versteinerter Miene. »Aber eines würde ich gern von Euch erfahren.«
»Was?«
»Wer seid Ihr?«
Er lächelte, zum ersten Mal. Es ähnelte eher einem bösartigen Zähnefletschen.
»Ich bin der Krieger mit den einhundert Gesichtern«, erwiderte er. »Worte und Gedanken der Geister meiner Ahnen strömen seit einigen Tagen durch meinen Verstand, geweckt von der Stimme der Grauen Eminenz. Seine Essenz erwartet mich in dem stinkenden Müllhaufen einer Stadt namens Sejeend. Meine erste Essenz nennt sich Huzur Marag. Das dürfte für deinen verkommenen Kaiser genügen!«
Nach diesen Worten wandte er sich ab und rief nach seinem Pferd. Während Ayoni durch den Torweg geschleppt wurde, sah sie sich suchend nach Jarryc um und schnappte seinen wütenden, verzweifelten Blick auf. Er bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen, doch im nächsten Moment wurde sie durch das gewölbte Portal in die Dunkelheit gezerrt.
Vorik dor-Galyns Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Er stand am Fenster und starrte auf die Stadt von Sejeend hinunter. Das erste Morgengrauen vertrieb die Schleier der Dunkelheit. Die Kämpfe und das Chaos der Nacht hatten tiefe Wunden in der Stadt hinterlassen, aber sie hatte in der Vergangenheit schon Schlimmeres überstanden. All dies beschäftigte Vorik jedoch nur am Rande. Hauptsächlich belasteten seine Gedanken die Zweifel und die Sorgen, was Jumil anging, das bevorstehende Ritual des Schattenkeims und seine eigene Rolle dabei. Wo ist dieser dreimal verfluchte Hexer?, dachte Vorik erbost. Er sollte schon seit einer halben Stunde da sein. Er dachte an seine Herde, die Nacht-Geschöpfe, die er persönlich ausgesucht hatte. Sie waren gerade auf dem Weg in den Palast. Vorausgesetzt natürlich, dass sie die Unruhen der letzten Nacht überlebt hatten. Dieser Gedanke setzte ihm zu, und plötzlich erfüllte ihn eine unerträgliche Unruhe.
Was hielt Jumil auf? Sprach er noch mit dem Schattenkönig, der angeblich eine Stunde vor Tagesanbruch zurückgekehrt war, nachdem er mitten auf dem Höhepunkt der Schlacht in den umkämpften Straßen verschwunden war? Vorik trat von dem Fenster zurück in den goldenen, warmen Schein seines Zimmers, und sog den durchdringenden Geruch ein, der aus dem Kamin drang. Dort brannten in Duftöl getränkte Holzscheite. Er schenkte sich einen Kelch süßen Weines aus Roharka ein und betrachtete eine Weile einen antiken Wandteppich aus Dalbari, bevor er an das Buchregal trat und einen Band mit Aphorismen herauszog. Er schlug ihn willkürlich auf und las einige Seiten, bis er einen Fluch ausstieß, das Buch zuklappte, auf einen Tisch legte, und die Tür zum Flur aufriss.
Zwei erschöpfte Bogenschützen nahmen erschreckt Haltung an, als er an ihnen vorbeistürmte. Er beachtete sie jedoch nicht, sondern marschierte mit weit ausholenden Schritten zur Tür der Gemächer des Hexers. Er klopfte kurz an, stieß sie auf und trat ein.
»Erlauchter, die Stunden verstreichen, und im selben Maß schrumpft die verbliebene Zeit für unsere Pläne …« Er hielt inne, als er die Spannung in dem Raum bemerkte und den vertrauten, kupfernen Geschmack von Brunn-Quell-Macht im Mund schmeckte. Jumil und der besessene Ondene standen neben einem massiven, geschnitzten Tisch, dessen glatte Oberfläche mehrere Brandstellen aufwies. Ondene, der sich in den Klauen des Schattenkönigs befand, war von einer schwachen,
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