03 - Schatten Krieger
Schiefervorsprung zwischen dem Fenster und der niedrigen Mauerkrone des Gebäudes. Der Durchbohrte sprang hinter ihm her und griff nach seinen Beinen. Sounek spürte seine Finger bereits an seinem Stiefelabsatz, doch da zog Inryk ihn weg und half ihm hoch. Ihr Verfolger knurrte heiser und kletterte ebenfalls auf das Dach hinaus. »Er ist wirklich sehr hartnäckig«, bemerkte Inryk.
Sounek nickte. »Eine Eigenschaft, die ich an meinen Feinden nicht sehr schätze. Es bringt sie nur in Schwierigkeiten.«
Sie huschten so rasch über den Sims, wie das schräge Schieferdach des Refugiums es erlaubte. Auf der anderen Seite gähnte ein zwanzig Meter tiefer Abgrund. Ihr Verfolger verlor einmal fast das Gleichgewicht und kroch anschließend auf Knien hinter ihnen her. Die beiden Magier erreichten die Ecke des Daches, wo Inryk stehen blieb.
»Hier hängt das geknotete Seil«, erklärte er. »Wir schaffen es niemals bis zum Boden, bevor er das Tau erreicht.« Er deutete auf die Stelle, an der ein schweres Seil um einen eisernen Balken geschlungen war. »Wir müssen ihn aufhalten. Oder wir laufen so lange um dieses verdammte Dach herum, bis wir noch abstürzen!«
Inryk nickte, und sie wirkten zusammen ein Sperrfeuer aus Gedankengesang-Zaubern, sandten Blitze und feurige Pfeile aus. Das hemmte ihren Verfolger zwar, und Sounek roch den ätzenden Gestank von versengter Haut und brennenden Haaren, dennoch näherte sich ihr Widersacher ihnen Zentimeter um Zentimeter. Die zerfetzte Kleidung des Mannes qualmte, und der verkohlte Schaft des Spießes ragte nach wie vor aus seiner Brust heraus. »Es gibt eine Möglichkeit«, meinte Inryk schließlich. »Ich werde ihn angreifen und ihn über den Rand stoßen. Er wird mich vermutlich mit hinunterreißen, aber wenigstens …«
»Nein, wartet, Inryk.« Sounek lächelte grimmig und deutete auf den abgebrochenen Speer. »Wir haben das Offensichtlichste übersehen. Hört zu …«
Tashil und Atemor waren noch eine Straße von der Loge der Wächter entfernt, als ihr Bruder erneut einen kurzen Anfall von Geistesabwesenheit erlitt, den dritten, seit sie ihre Wohnung über dem Ladengeschäft verlassen hatten. Wie zuvor ging er langsamer und schleppender, wirkte orientierungslos, schaute sich verwirrt um und redete mit sich selbst. Glücklicherweise waren um diese nächtliche Stunde kaum Menschen auf den Straßen dieses Viertels unterwegs, also hatten sie keine unerwünschten Zuschauer. Tashil führte ihn zu einer niedrigen Mauer, wobei Atemor versuchte, sich ihr zu widersetzen, aber er war zu schwach und unkoordiniert. Es gelang ihr, ihn auf die Mauer zu setzen.
Tashil redete mit ihrem Bruder, wiederholte seinen Namen, und versuchte, ihn zu sich selbst zurückzurufen. Das Wirken dieses rätselhaften Geistes, der sich in Atemors Wesen gegraben hatte und versuchte, ihn aus seinem Selbst zu verdrängen, war schrecklich anzusehen. Seine Augen lagen wie glanzlose Scheiben in ihren Höhlen, während seine Lippen sich unaufhörlich bewegten und Worte in einer unbekannten Sprache stammelten. Manchmal vernehmlich, manchmal auch nur lautlos. Einmal richtete er sich auf und schaute nach Süden, zur anderen Seite von Sejeend, und sein Tonfall änderte sich, als stellte er einer unsichtbaren Wesenheit Fragen. Tashil gab nicht auf, wiederholte immer wieder seinen Namen, schob ihm das Haar aus dem bleichen Gesicht und streichelte seine Hände, bis endlich so etwas wie Erkenntnis in seinen Augen aufflackerte. Gleichzeitig verriet sein Blick eine tiefe Furcht. Er holte zitternd Luft.
»War es so schlimm wie vorher?« Tashil wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Als ob … du in Stimmen ertrinken würdest, Tash! Oder von Toten gejagt…« Seine Stimme versagte vor Grauen, und er umklammerte fest ihre Hände. »Jedes Mal wird es klarer und stärker. Ich kann den Staub in ihrem Atem riechen und die Berührung ihrer Finger spüren …« Er ließ ihre Hände los und schlug die seinen zitternd vor das Gesicht. »Hilf mir, Tash, ich bitte dich!«
Ihr war klar, dass sie jetzt stark sein musste. Also unterdrückte sie ihre Gefühle und drängte ihn, aufzustehen. »Komm, wir sind fast da.«
Kurz darauf erreichten sie das Vordach vor dem Eingang der Wächterloge. Ein eisiger Wind fuhr durch die Bäume und fegte die Regentropfen von Blättern und Büschen. Eine Lampe brannte in einer Wandnische neben der Tür, vor der einer von Calabos' stämmigen Wachen stand. Der Mann nickte und ließ sie ein. In der dämmrigen
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