03 - Schatten Krieger
gefährdet.«
»Ich respektiere Euer Pflichtgefühl, Bruder. Teilt der Gräfin mit, dass unsere Pflicht uns zwingt, diese Loge sofort aufzugeben und Schutz außerhalb der Stadt zu suchen. Das ist alles.«
»Gehe ich mit Euch?« Atemor schaute von Calabos zu Tashil. »Bin ich Euer Gefangener?« »Atti«, sagte sie, »überall lauern Gefahren …«
»Der Hexer, der Euch in diese Stadt gelockt hat, kennt Euch jetzt«, fuhr Calabos ernst fort. »Er weiß außerdem, dass Ihr uns begegnet seid. Fallt Ihr ihm erneut in die Hände, seid Ihr nur ein kleiner Bissen für seinen unstillbaren Hunger. Bleibt bei uns, dann erwartet Euch vielleicht ein gnädigeres Schicksal. Die Entscheidung liegt bei Euch.« Atemor wirkte bedrückt und verunsichert. Tashil beugte sich vor.
»Komm mit uns, Atti. Es ist sicherer.«
Ihr Bruder lächelte reumütig. »Unser Vater wird mir genug Vorhaltungen machen, wenn er das erfährt.« »Solange du nur lebst und sie dir anhören kannst«, entgegnete Tashil, »soll er sagen, was er will.« Calabos lächelte die beiden an. »Gut, das wäre also geklärt.«
Er rief seine Wächter zu sich, gab Befehle aus und wies jeden an, Ausrüstung und Proviant in die Eingangshalle zu bringen. Enklar sollte ihnen helfen. Als Tashil und ihr Bruder losgingen, um Decken und wasserdichte Umhänge zu besorgen, drehte sie sich noch einmal um. Calabos und der Heilermönch traten an den Kamin. »Übrigens, Bruder Graas«, hörte sie Calabos sagen, »was nun diese Nachricht an die Gräfin betrifft…« Coireg Mazaret hatte eine lange und seltsame Nacht hinter sich. In unregelmäßigen, klarsichtigen Momenten schienen die schattigen Straßen der Stadt an ihm vorbeizuziehen. Er erinnerte sich an kurze Eindrücke der Landschaft um Hekanseh, an vage Bilder von einer Fahrt auf einem hölzernen Karren, Bruchstücke von gepflasterten Straßen und den tintenschwarzen Einmündungen von unbeleuchteten Gassen. In sein Gedächtnis hatten sich jedoch auch andere Visionen eingegraben, zum Beispiel die eines großen Feuers im Palast, dessen grelle Flammen wie Zungen und zuckende Schleier in den düsteren Himmel gestiegen waren. Oder von einem wütenden Mob, der sich Keulen und Speere schwingend durch die Stadt wälzte. Oder an die Flucht vor Bettelkindern, die ihn mit Steinen bewarfen, an ein Versteck in einem kleinen Park westlich des Stadtzentrums, auf einer Anhöhe in der Nähe der Klippen.
Dort gewann Coireg für einen langen, wohltuenden Moment seinen Verstand zurück, und zu seiner Überraschung verließ ihn diese Klarheit nicht mehr. Er orientierte sich allmählich und merkte, dass er in hohem, feuchtem Gras kauerte, den Kopf zwischen den Knien. Vorsichtig hob er den Blick, musterte das Dunkel und leckte sich die trockenen, gesprungenen Lippen. Danach richtete er sich auf. Im Gras vor ihm wuchsen kleine Wurzeln, Knollen und Pilze, und er hatte einen sandigen, bitteren Geschmack im Mund. Er lachte zitternd. Offenbar hatte sein verrücktes anderes Selbst versucht, einen Gifttrank für irgendeinen boshaften Zweck zu brauen. Doch er schien ihn nur beruhigt zu haben. Vielleicht hatte er ihm ja sogar den ersehnten Schlaf geschenkt.
Coireg ließ sich zurücksinken, legte den Kopf in den Nacken und sog tief die kühle, nach Pflanzen duftende Luft des Parks ein. Er war immer noch er selbst, doch das Gefühl der Erleichterung erstickte er im Keim. Besser, wenn er seine Gefühle eisern unter Kontrolle hielt. Er konnte sich an zahllose ähnliche Situationen in den drei Jahrhunderten seines unberechenbaren Lebens erinnern. Erst letzte Nacht hatte er wie jetzt gerade eine lange Periode der Ruhe in seinem schäbigen, dämmrigen Raum erlebt, glücklich mit einem Federkiel und Tinte herumhantiert und Notizen in sein Tagebuch eingetragen.
Da hörte er ein undeutliches Summen, wie eine schwache Brise, das erst zu einem murmelnden Flüstern, dann zu einem vielsprachigen Rufen anschwoll, unter dessen Oberfläche eine tiefe, weit entfernte Stimme einen unaufhörlichen Strom von Silben intonierte. Schließlich fegte die Stimme wie ein Orkan durch seinen Verstand, wirbelte seine Gedanken durcheinander und beraubte ihn aller Hoffnung. Nur aus einem verzweifelten, primitiven Reflex heraus klammerte er sich an sein Bewusstsein, bevor sich sein wahnsinniges Ich rührte, sein Coireg-Selbst verdrängte und den reißenden Strom unheimlicher Macht willkommen hieß.
Er war dem Ruf gefolgt, aus der Klause des Friedens geflohen und hatte sich auf eine wilde
Weitere Kostenlose Bücher