03 - Schatten Krieger
höhnte Jumil. »Wie viele Tassen Wasser ergeben einen Ozean? Aus wie vielen Sandkörnern bestehen die Strände? Wie will man die Essenz eines Gottes ermessen? Nein, du solltest lieber fragen, wie viele von meinem Großen Ruf erweckt wurden.«
»Erlauchter, ich verbessere meine ungenaue Frage nach Euren Vorgaben.«
»Dutzende und Aberdutzende, Vorik. Vielleicht sogar Hunderte. Aber einstweilen genug davon. Reden wir über die anderen Nacht-Geschöpf-Herden. Wir müssen die letzten Einzelheiten ihres Aufbruchs festlegen, damit alles bereit ist, wenn die Zeit kommt…«
Ihre Stimmen verklangen, als sie den Raum verließen. Corlek Ondene kauerte in derselben Haltung wie zuvor, und ein nicht enden wollendes, bösartiges Lachen drang aus seinem Mund. Aus seinen Augen jedoch rollten Tränen.
Als Tashil und Dardan den
Silbernen Schlüssel
erreichten, eine Herberge am Rand der Klippen an der Spitze der Melvio-Stiege, war es bereits früher Vormittag. Der Himmel war grau und bewölkt. Während ihres Rittes von der Korfaen-Marsch hatte Tashil mehrmals versucht, Dybel mit Gedankensprache zu erreichen. Sie hatte nur einmal eine Antwort bekommen, eine wortlose Bestätigung. Sie fragte sich, ob Dybel vielleicht zu schwer verletzt war, um transportiert zu werden. Sie teilte Dardan ihre Befürchtung mit, als sie im Innenhof des
Silbernen Schlüssels
abstiegen.
»Deshalb werde ich ein Boot suchen, während Ihr seine Wunden versorgt«, erwiderte er, bevor er einen der Stallknechte zu sich rief, bei dem er für die Unterbringung von Calabos' Pferd zahlte.
Als sie die Herberge eilig verließen, wies Tashil auf die Schwierigkeiten hin, die sie möglicherweise bei Dybels Heilung erwarten würden. »Einen Pfeil mit Widerhaken zu entfernen ist eine größere Operation«, meinte sie. »Das ist etwas anderes, als einfache Wunden zu verbinden. Wir werden hinterher beide geschwächt sein.« »Kein Wenn und Aber, Tashil. Wir lösen diese Problem, wenn es sich uns stellt.«
Sie folgten einem Schotterweg am Rand der Klippe, dessen fester Holzzaun verhindern sollte, dass Kinder und Tiere in den sicheren Tod stürzten. Auf der anderen Seite des Pfades erstreckten sich die Ausläufer eines Gehölzes in beide Richtungen, nur unterbrochen von der Lichtung, auf der sich der
Silberne Schlüssel
befand, und von einer freien Fläche hinter der Melvio-Stiege, auf der sich der Weg gabelte. Als sie zur Spitze dieser langen Steintreppe kamen, schärfte Tashil ihre Magiersinne und tastete in Gedankensprache nach Dybel.
Dybel, wir sind da. Könnt Ihr zu uns kommen?
Kommt rasch … sie verfolgen mich …
Die beiden Magier wechselten einen besorgten Blick und hasteten die Treppe hinunter. Sie nahmen zwei, drei Stufen auf einmal, trotz der Abnutzungserscheinungen, welche die Jahrhunderte und die zahllosen Reparaturen an der Treppe hinterlassen hatten. Im Augenblick benutzten jedoch nur wenige Menschen die Treppe, und die blickten kaum hoch, als die beiden Wächter an ihnen vorbeihetzten.
Tashil hörte nichts mehr von Dybel, aber nach zwei Dritteln des Weges sah sie eine Gestalt, die langsam die Treppe hinaufkroch. Eine Ahnung regte sich in ihr, die rasch zur Gewissheit wurde, als sie sich der Gestalt näherten. Kurz darauf hob Dybel sein bleiches Gesicht zu ihnen empor und lächelte schwach. »Da waren Wachen …«, stieß er heiser hervor. »Sie haben angefangen, die Häuser in der Straße zu durchsuchen … vor etwa einer Stunde. Ich musste fliehen …«
»Ich kann jetzt keine sehen.« Dardan spähte über das Geländer in die Tiefe.
Tashil hockte sich neben Dybel und untersuchte seine Wunde. Der zerbrochene Schaft eines Pfeils ragte aus der Seite unterhalb seiner Rippen heraus. Vorsichtig schob sie den blutdurchtränkten Lappen zur Seite, den er darauf gepresst hatte, und sah die dunklen Ränder um die Eintrittswunde. Das Fleisch darum herum war bereits farblos. Sie runzelte die Stirn.
»Er muss sofort behandelt werden«, sagte sie zu Dardan. »Wir können nicht riskieren, am Ufer entlang zu gehen. Wir müssen die Klippenstraße nehmen.«
»Sollen wir ihn auf Calabos' Pferd setzen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht sechs Meilen bis nach Murstig. Das würde ihn umbringen.« Sie schaute Dybel entschuldigend an. »Es wäre wirklich sehr riskant…«
»Die Spitze der Treppe wäre vielleicht für dieses Gespräch ein … geeigneterer Ort, nicht wahr?«, murmelte Dybel.
Tashil und Dardan nickten, halfen ihm auf, und nach etwa zwanzig Minuten und
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