03 - Tod im Skriptorium
Aufruhr.
»Doch die Erben Illans waren verschwunden. Die Frage war, wie man herausfinden könnte, wer sie waren und wo sie sich aufhielten. Ein Weg zu ihrer Entdeckung, so glaubte man, bestünde darin, die Genealogien von Osraige zu untersuchen. Da die Corco Loígde in Osraige herrschten, waren es ihre Schreiber, die die genauen Genealogien und Chroniken verfaßt hatten. Und wo werden diese Genealogien aufbewahrt?«
Fidelma hielt wieder inne und betrachtete die erwartungsvollen Gesichter in der jetzt stillen Abteikirche.
»Sie befinden sich hier, hier in Ros Ailithir.«
Es erhob sich ein Gemurmel, manche begriffen wohl, worauf sie hinauswollte.
»Fianamail von Laigin schickte seinen besten Gelehrten nach Ros Ailithir, um die Genealogien zu studieren mit dem Ziel, den Erben Illans aufzuspüren. Dieser Gelehrte war kein anderer als Dacán, der Bruder des Abts Noé von Fearna und Vetter des Königs Fianamail. Das möge Fianamail unter seinem heiligen Eid bestreiten!«
»Eine Frage!« rief Forbassach. »Ich habe das Recht, eine Frage zu stellen!«
Das gestand ihm der Oberrichter zu.
»Wenn der gegenwärtige König von Osraige so begierig darauf war, die Erben Illans aufzuspüren, wie die Anwältin für Muman behauptet, warum schickte er dann nicht selbst einen Gelehrten, um in den Aufzeichnungen nachzuforschen, die sich hier, auf dem Gebiet seiner eigenen Familie, befinden? Das hätte er doch mit Leichtigkeit tun können.«
»Die einfache Antwort darauf lautet, daß er oder vielmehr seine Familie das auch taten«, erwiderte Fidelma gelassen. »Doch ich habe Fianamail aufgefordert, zu bestreiten, daß Dacán in seinem Auftrag zu diesem Zweck hierher entsandt wurde. Ich erwarte eine Antwort.«
Forbassach wandte sich um und wechselte ein paar hastige Worte mit Fianamail und dem finster blickenden Abt Noé. Der Oberrichter räusperte sich bedeutungsvoll. Forbassach erhob sich und sagte: »Welche Forschungen Dacán auch betrieben haben mag, das ändert nichts an der Tatsache, daß er ermordet worden ist und daß die Verantwortung für seinen Tod beim Abt liegt und in letzter Instanz beim König von Muman.«
Seine Stimme war fest, doch sie klang weniger zuversichtlich als bei seiner Eröffnungsrede.
»Das gilt nicht«, erwiderte Fidelma mit Nachdruck, »wenn der Zweck von Dacáns Aufenthalt hier ein anderer war als der, den er angegeben hatte.«
Diesmal war es der ollamh des Oberrichters, der sich vorbeugte und Barrán etwas ins Ohr flüsterte. Der Oberrichter sah Fidelma ernst an.
»Wenn dies die Grundlage deines Gegenplädoyers ist, Schwester Fidelma, dann rät man mir gerade, dich zu warnen, daß deine Verteidigung auf schwachen Füßen steht. Dacán erklärte, er wolle in Ros Ailithir forschen und unterrichten, und unter dieser Bedingung wurde ihm die Gastfreundschaft des Königs von Cashel und des Abts von Ros Ailithir gewährt. Die Tatsache, daß er die genaue Zielrichtung seiner Forschungen nicht angab, schließt ihn nicht vom gesetzlichen Schutz aus. Schließlich stellte er ja Forschungen an.«
»Dem müßte ich widersprechen«, antwortete Fidelma, »aber ich stütze mein Plädoyer ja bekanntlich auf zwei Punkte. Lassen wir den ersten für den Augenblick auf sich beruhen. Ich werde später beweisen, daß ich auch damit die Schuld des Abts und des Königs von Muman zurückweisen kann. Doch zunächst haben wir wichtigere Dinge zu klären, nämlich, wer Dacáns Mörder war.«
Wieder begannen die Zuhörer miteinander zu flüstern. Barráns Augen verengten sich, als er sich vorbeugte und durch Klopfen mit seinem Amtsstab Ruhe gebot.
»Willst du damit sagen, daß du ihn kennst?« wollte er wissen.
Fidelma antwortete mit einem geheimnisvollen Lächeln.
»Darauf komme ich gleich. Vorher muß ich noch ein paar andere Dinge erläutern.«
Mit einer ungeduldigen Geste forderte Barrán sie zum Weitersprechen auf.
»Wie ich schon sagte, Dacán kam allein mit dem Ziel nach Ros Ailithir, die Genealogie Illans zu erforschen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß seine frühere Ehefrau, Grella aus der Abtei Cealla, hier als Bibliothekarin arbeitete. Er hielt das für einen Glücksfall, denn Grella stammte aus Osraige, und ihre Beziehung zu Dacán hatte nicht in Feindschaft geendet. So erbat Dacán ihre Hilfe, um die Aufzeichnungen zu bekommen, die er brauchte. Sie half ihm gern, weil auch sie daran interessiert war, die Erben Illans zu finden. Leider waren ihre Gründe für dieses Interesse nicht dieselben
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