03 - Tod im Skriptorium
Seelenfreundin Eisten verraten hätte, könnte sie dann auch Eisten getötet haben? Und wo waren die Söhne Illans? Warum war sich Dacán so sicher gewesen, daß es einen Erben im Alter der Wahl gäbe? Wo steckten die beiden Jungen, die Primus und Victor genannt wurden? Victor und Primus … Primus …
K APITEL 16
Victor!
Der Name beschäftigte Fidelma; seit Sceilig Mhichil spukte er ihr im Kopf herum. Das Bild der beiden schwarzhaarigen Jungen aus Rae na Scríne stand ihr ebenfalls immer wieder vor Augen. Doch die Söhne Illans sollten nach der Beschreibung des Mönchs ja kupferrote Haare haben. Aber der Name, der Name Victor … Hic est meum, Victor. Bedeutete der Name nicht »triumphierend« oder »siegreich«, und hieß das im Irischen nicht Cosrach?
Ihr stockte der Atem, als sie erkannte, wie leicht die Lösung des Rätsels war. Die Söhne Illans wurden Primus und Victor genannt. Primus hieß »der Erste«, und war Cétach nicht die Koseform von cét , was ebenfalls »erster« bedeutete? Cétach trug den Namen des legendären Herrschers, der einst das Königreich Osraige gründete. Primus = Cétach. Victor = Cosrach! Die beiden Jungen waren zwar verschwunden, doch sicherlich konnten die anderen Kinder aus Rae na Scríne den Mönch beschreiben, der sie Schwester Eistens Obhut übergeben hatte.
Abrupt parierte sie ihr Pferd; Cass konnte seines gerade noch zügeln, um nicht gegen sie zu prallen. Schwester Grellas Pferd scheute und wäre beinahe gestürzt.
Fidelma schimpfte sich leise einen Trottel, weil sie auf etwas so Naheliegendes nicht eher gekommen war.
»Was ist?« fragte Cass, fuhr mit der Hand zum Schwertgriff und sah sich um, als erwarte er den Angriff eines unsichtbaren Feindes.
»Ich hatte gerade eine Idee!« antwortete sie glücklich. Sie wußte jetzt, nach wem Dacán gesucht und warum sich Cétach so vor Salbach gefürchtet hatte. Es mußten Cétach und Cosrach sein, die Intat hatte umbringen sollen, als er nach Rae na Scríne geschickt wurde und es niederbrannte.
»Nur eine Idee? Ich dachte, es drohe eine Gefahr«, beklagte sich Cass.
»Es gibt nichts Gefährlicheres als Ideen, Cass«, lachte Fidelma. »Eine einzige Idee, wenn sie richtig ist, erspart uns Jahre mühsamer Erfahrung und die harte Schule vieler vergeblicher Versuche.«
»Ideen bedrohen unser Leben aber nicht mit Schwertern und Pfeilen«, erwiderte Cass.
»Sie können uns sogar noch mehr antun, Cass. Los, weiter«, sagte Fidelma. Sie setzte ihr Pferd wieder in Trab und ritt den Weg entlang, der nach Ros Ailithir hinunterführte.
Bruder Conghus erwartete sie am Tor, und der Abt persönlich kam ihnen entgegengeeilt.
»Schwester Grella!« keuchte er und blickte erstaunt von Grella zu Fidelma. »Du hast die Schuldige gefangengenommen, Kusine?«
Zu Cass’ Überraschung machte Fidelma keine Miene abzusteigen. Sie beugte sich über den Sattelknopf und sagte leise zu ihrem Vetter: »Grella ist auf meine Anweisung in sicheren Gewahrsam zu nehmen. Sie hat sich vor der Ratsversammlung des Großkönigs, wenn sie hier zusammentritt, für vieles zu verantworten. Ihr Verschwinden aus der Abtei wird sie dir selbst erklären.«
»Bedeutet das, daß du zu einem Ergebnis gekommen bist?« fragte Brocc, und mit fast verschwörerischer Miene blickte er über die Schulter zur Abtei. »Der Großkönig und sein Gefolge sind bereits eingetroffen. Barrán, der Oberrichter, hat schon nach dir gefragt und …«
Mit erhobener Hand gebot Fidelma dem Abt zu schweigen.
»Im Augenblick kann ich nicht mehr sagen. Wir kommen sobald wie möglich zurück.«
»Zurück? Wo wollt ihr denn hin?« fragte Brocc kläglich, doch Fidelma lenkte ihr Pferd vom Tor der Abtei fort.
»Laß Schwester Grella gut bewachen, auch zu ihrer eigenen Sicherheit«, rief Fidelma über die Schulter zurück.
Cass folgte ihr mit einer Miene, die deutlich verriet, daß er ebenso ratlos war wie der Abt.
»Wenn du es dem Abt nicht sagen kannst, Schwester«, beschwerte er sich, als er sie eingeholt hatte, »vielleicht kannst du es mir wenigstens verraten, wo wir hinreiten?«
»Ich muß das Waisenhaus finden, in das die Kinder aus Rae na Scríne gebracht wurden«, antwortete sie. »Ich weiß, es liegt an der Küste im Osten von hier.«
»Du meinst das Waisenhaus, das Bruder Molua betreibt?«
»Kennst du es?« Sie war überrascht.
»Ich habe davon gehört«, erklärte Cass. »Ich habe mit Bruder Martan darüber gesprochen. Es sollte nicht schwer zu finden sein. Es liegt
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