0302 - Der Unhold
zugeworfen.
La Bandita wollte es wissen. Mit der Faust hämmerte sie gegen die Tür. Es waren schwere Schläge, und das Holz begann zu zittern.
Als niemand öffnete, glaubten wir schon nicht mehr an einen Erfolg. Doch plötzlich war eine Antwort zu hören.
»Ja, wer ist denn da?« hörten wir eine wütend klingende Stimme.
»Ich, Claudia.«
»Du?«
»Ja. Mach auf!«
»Aber es ist mitten in der Nacht.«
»Du schläfst doch nicht.«
»Gut, warte.« Wir hörten schlurfende Schritte, die sich der Tür näherten. Dann wurde ein Schlüssel im Schloß gedreht, und einen Moment später zog jemand die Tür nach innen. Das Knarren hätte wirklich gut in einen Gruselfilm gepasst.
Ein altes Gesicht erschien, in dem zwei hellwache Augen uns blitzschnell musterten. Sie zeigten nicht einmal Überraschung, nur aus dem schmalen Mund der Alten drang eine Frage.
»Du hast Besuch mitgebracht?«
»Tante Rosa, du mußt verstehen, aber ich konnte…«
»Ich sage ja nichts. Kommt rein!« Rosa Beluzzi zog die Tür so weit auf, daß wir den dahinterliegenden Raum betreten konnten.
Ein kleines Zimmer nahm uns auf. Die beiden Stufen sah ich fast zu spät. Beinahe wäre ich gestolpert.
Ein Ofen sorgte für Wärme. Die trübe Stehlampe in der Ecke gab einen milden Schein ab und ließ eine Hälfte des Raumes im Schatten verschwinden.
Rosa Corelli schritt vor uns her. Sie deutete auf eine alte, ziemlich zerschlissene Couch. »Da könnt ihr alle einen Platz finden«, sagte sie und ließ sich selbst auf einen Stuhl fallen.
Suko und Mandra nahmen auf dem Sofa Platz. Ich holte mir, wie Claudia, einen Stuhl und setzte mich links neben die Wahrsagerin, so daß Claudia und ich sie in der Mitte hatten.
Rosa Beluzzi drehte sich um. Sie schaute ihre Nichte direkt an und fragte: »Wie geht es dir denn, mein Mädchen?«
»Nicht schlecht.«
»Haben dich die Kugeln der Carabinieri noch immer nicht erwischt?«
»Nein, ich war schneller.«
Rosa hob den rechten Zeigefinger. »Du solltest acht geben, ich habe Schlimmes über dich in der Zukunft gelesen.«
Claudia lachte. Sie warf ihre langen, roten Haare zurück. »Das hast du mir schon oft gesagt, Tante, aber ich lebe noch immer.«
»Sei froh und bete, daß es auch so bleiben wird. Kein Mensch lebt ewig. Nur der Herrgott, und damit willst du dich ja nicht vergleichen.«
»Nein, Tante, aber ich möchte dich etwas fragen. Oder vielmehr die Signores.«
Rosa Beluzzi drehte sich um. Der Reihe nach schaute sie in unsere Gesichter. »Ihr seid nicht von hier«, stellte sie fest und nickte sich selbst zu. »Wie heißen die Länder, aus denen ihr beide kommt?«
Damit meinte sie Suko und Mandra.
Als sie die Antwort bekam, fing sie an zu lachen. »Ja, China und Indien. Geheimnisvolle Länder. Ich las viel darüber und habe einiges davon behalten…«
»Weiche nicht ab, Tante, wir sind wegen etwas anderem hier.«
»Rede, mein Kind.«
Claudia begann. Es paßte mir nicht, daß sie die ganze Geschichte aufrollte, aber wir konnten nicht eingreifen, schließlich waren wir hier nur zu Gast.
La Bandita sprach sehr schnell. Ich wunderte mich darüber, daß ihre Tante ruhig zuhören konnte, ohne eine Gegenfrage zu stellen.
Sehr genau wurde die alte Frau von mir beobachtet. Dabei stellte ich fest, daß sich der Ausdruck ihrer Augen veränderte.
Er schien mir irgendwie lauernd zu werden, und auch Rosas Atem beschleunigte sich.
Wusste sie mehr?
Mein Blick schweifte ab. Ich schaute dabei in Sukos Augen und sah sein Nicken. Auch Mandra bewegte seinen Kopf. Den beiden war anscheinend das gleiche aufgefallen wie mir.
Diese Frau wußte mehr!
Leider wurde die Unterhaltung zwischen Tante und Nichte sehr schnell und auch leise geführt. Ich bekam so gut wie nichts mit, hörte aber das rauhe und harte Lachen der Alten. Danach hustete sie.
Über ihren Kopf hinweg schaute ich Claudia an und redete mit ihr. »Was hat sie gesagt?«
»Keine Ahnung.«
Ich war überrascht. »Sie müssen doch wissen, Claudia, was Ihre Tante Ihnen erzählt hat.«
»Das meinen Sie. Klar. Sie kann sich nicht vorstellen, aus welchem Grund mein Bruder von dem Monstrum geholt worden ist.«
»Und die Bestie selbst?«
»Hat sie nicht gesehen.«
Das war natürlich nicht gut. Wir standen wieder da, wo wir auch angefangen hatten. Keiner wußte etwas, keiner konnte sich etwas vorstellen, keiner wollte reden.
»Sie können ruhig in Ihrer Heimatsprache mit mir sprechen«, sagte die alte Frau plötzlich zu mir und begann zu kichern. »Ich
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