031 - Die blaue Hand
schlimmer noch als die Gesellschaft dieses Mädchens war die Einsamkeit.
»Bleiben Sie bei mir, bis die Pflegerin wiederkommt, Sie können sich ja ein Buch nehmen und lesen.«
Eunice holte im Nebenzimmer ein Buch. Als sie zurückkam, versteckte die alte Frau etwas unter ihrem Kissen. Eine Stunde lang saßen sie schweigend. Mrs. Groat, den Kopf vornüber gebeugt, völlig mit sich selbst beschäftigt, spielte mit ihren Fingern. Unvermutet fing sie zu sprechen an.
»Woher haben Sie eigentlich die Narbe am Handgelenk?«
»Ich weiß es nicht. Ich hatte sie schon, als ich ein ganz kleines Kind war. Wahrscheinlich habe ich mich einmal verbrannt.«
Es folgte eine lange Pause.
»Wo sind Sie geboren?«
»In Südafrika.« Um das Schweigen, das wieder entstand, zu unterbrechen, sagte Eunice: »Ich habe eine Miniatur von Ihnen gefunden, Mrs. Groat!«
»Von mir? Ach ja, ich besinne mich. Konnten Sie mich denn darauf erkennen?«
»Ja, so müssen Sie vor vielen Jahren ausgesehen haben. Ich konnte eine gewisse Ähnlichkeit feststellen«, erwiderte Eunice.
»Ja, früher habe ich so ausgesehen.«
»Sie müssen sehr schön gewesen sein.«
»Ja, ich war sehr schön. Aber mein Vater wollte mich in einem todlangweiligen Dorf begraben. Er glaubte, daß ich für die Stadt zu schön sei. Er war ein böser, herzloser Mann, ein Tyrann - das war nicht außergewöhnlich damals, es gab viele davon, als ich jung war. Mein Vater haßte mich von meiner Geburt an, und auch ich haßte ihn. Männer stellten mir nach, Miss Weldon«, sagte die Alte mit sichtlicher Befriedigung und sah Eunice von der Seite an. »Männer, deren Namen in der ganzen Welt bekannt und berühmt waren.«
Eunice blieb still. Was für eine Tragödie sollte da vor ihr aufgerollt werden? Sie fragte sich, ob die Freigebigkeit dem Marqués von Estremeda gegenüber wohl auf ein Liebesverhältnis zwischen den beiden zurückzuführen war.
»Es gab einen Mann, der mich liebte«, fuhr Mrs. Groat fort. »Aber seine Liebe zu mir war nicht groß genug. Ich muß bei ihm verleumdet worden sein, denn er wollte mich heiraten und brach dann plötzlich die Beziehungen zu mir ab. Er nahm ein einfältiges, hübsches Mädchen aus Malaga zur Frau.« Sie lachte leise.
Eigentlich wollte sie Eunice Weldon diese Dinge gar nicht erzählen, aber die Erinnerungen überwältigten sie. »Er war Marqués, ein harter Mann, und nicht sehr liebenswürdig zu mir. Mein Vater hat mir nie verziehen. Und als ich nach Hause zurückkehrte, hat er kein Wort mehr mit mir gesprochen, obwohl er noch zwanzig Jahre lebte.«
Als sie nach Hause zurückkehrte! dachte Eunice. Dann war sie also mit dem Marqués durchgebrannt! Und er hatte sie später im Stich gelassen und das einfältige, hübsche Mädchen aus Malaga geheiratet. Allmählich wurden ihr die Zusammenhänge klar.
»Was ist aus dem Mädchen geworden?« fragte sie.
»Sie starb - er behauptete, ich hätte sie getötet.« Mrs. Groat lächelte seltsam, dann flüsterte sie nur noch. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Manchmal kommt ihr Geist in dieses Zimmer und schaut mich aus tiefen, schwarzen Augen an. - Als sie hörte, daß mein Kind sein Sohn ...« Sie brach ab und schaute sich verstört um. »Wovon habe ich gesprochen?«
Eunice hatte atemlos zugehört. Nun kannte sie das Geheimnis dieser merkwürdigen Familie. Jim hatte ihr schon von Mr. Groat erzählt, der Jane Danton geheiratet und den sie so tief verachtet hatte. Er war nur ein kleiner Angestellter ihres eigenen Vaters gewesen, den dieser dafür bezahlte, daß er die Tochter heiratete und ihre Schande deckte.
Digby Groat war der Sohn des Marqués von Estremeda!
»Lesen Sie doch weiter!« befahl Mrs. Groat und schielte argwöhnisch zu Eunice hinüber, die sie fassungslos anstarrte. »Was habe ich Ihnen da eben gesagt?«
»Sie haben von Ihrer Jugend gesprochen.«
»Habe ich von einem Mann gesprochen?« fragte die Alte mißtrauisch. Sie hatte alles schon wieder vergessen.
»Nein«, log Eunice.
»Nehmen Sie sich in acht vor meinem Sohn«, sagte Mrs. Groat nach einer Weile. Sie schüttelte den Kopf. »In vieler Beziehung gleicht er seinem Vater.«
»Mr. Groat?« fragte Eunice.
»Groat!« brummte die Alte verächtlich. »Dieser elende Wurm, nein -ja, natürlich Groat. Wer denn sonst?«
Vom Gang hörte man ein Geräusch. Mrs. Groat wandte den Kopf nach der Tür und horchte.
»Sie werden mich doch nicht allein lassen, Miss Weldon, bis die Krankenpflegerin zurückkommt?« flüsterte sie.
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