031 - Die blaue Hand
lief der Zug in den zweiten Tunnel ein. Er drückte sich noch rechtzeitig wieder platt aufs Dach. Qualm und Rauch nahmen ihm den Atem. Er hatte den richtigen Zug erreicht, davon war er überzeugt. Keuchend und mit aller Kraft hielt er sich fest, als die Lokomotive die Geschwindigkeit steigerte.
Als sein Wagen aus dem Tunnel donnerte, setzte gerade Regen ein. Ein starker Platzregen ging nieder, so daß er in kürzester Zeit bis auf die Haut durchnäßt war. Würde Lady Mary Erfolg haben und den Zug in Willesden zum Stehen bringen? Doch das Tempo ging nicht zurück, sondern vergrößerte sich im Gegenteil noch immer, als sie sich der Station näherten.
Hart und stoßweise ratterten die Wagen über die Schienen. Jim wurde bald auf die eine, bald auf die andere Seite geworfen. Das Dach war vom Regen ganz glatt geworden. Er mußte sich nun auch mit den Beinen an einem Ventilator festklammern. So gelang es ihm einigermaßen, sich überhaupt oben zu halten.
Unendlich lang dauerte die Fahrt. Sie schien kein Ende nehmen zu wollen. In einiger Entfernung tauchten viele Lichter auf. Allmählich fuhr der Zug langsamer, sie näherten sich Rugby. Plötzlich hielt er mit einem heftigen Ruck an. Jim verlor das Gleichgewicht, wurde vom Dach geschleudert und fiel in einen Wassergraben.
36
Für Eunice Weldon war diese Fahrt eine entsetzliche Qual. Sie verstand jetzt alles. Digby Groat hatte zu dieser List gegriffen, weil er wußte, daß sie der schwarzen Frau sofort folgen würde. Anders hätte er sie nur schwer aus der Stadt hinausgebracht, denn sicher suchte man schon überall nach ihr, und es wäre ihr vielleicht gelungen, sich bemerkbar zu machen; sie aber in ihrem Zustand nochmals zu betäuben hatte er nicht gewagt.
Die Vorhänge waren zugezogen. Er rauchte eine Zigarette.
»Wohin bringen Sie mich?« fragte sie.
»Fassen Sie sich in Geduld, bis wir ankommen.«
Nur dieser eine Wagen, der lediglich auf kurzen Strecken verkehrte und in Rugby abgehängt werden sollte, hatte keinen durchgehenden Seitengang. Digby brauchte also nicht zu befürchten, daß sie während der Fahrt gestört wurden. Einige Male sah er prüfend zur Decke hinauf. Auch Eunice hatte Geräusche über sich gehört, als ob etwas aufs Dach gefallen wäre. Digby hatte darauf das Fenster geöffnet und sich hinausgelehnt, aber den Kopf, naß vom Regen, gleich wieder zurückgezogen.
»Eine scheußliche Nacht!« sagte er und schleuderte die Zigarette auf den Boden.
Sie haßte und fürchtete ihn noch mehr in seiner grotesken Verkleidung. Was mochte er jetzt vorhaben? Sie überlegte rasch. Der Zug mußte bald anhalten, und auf dem Bahnsteig warteten bestimmt schon Beamte, um den Zug zu durchsuchen. Lady Mary hatte sie am Abteilfenster erkannt und gewiß alles zu ihrer Rettung unternommen. Lady Mary, ihre Mutter, auf die sie sogar eifersüchtig gewesen war! Sie mußte lächeln, und Digby Groat, der sie beobachtete, fragte nervös: »Worüber lächeln Sie? Sie glauben wohl, daß man Sie in Rugby befreien wird?«
»Rugby?« wiederholte sie. »Hält der Zug dort?«
»Sie bringen es fertig«, erwiderte er grinsend, »dauernd Informationen aus mir herauszuholen! Ja, der Zug hält in Rugby. Wir sind gleich dort.« Er sah auf die Uhr, öffnete die Damenhandtasche, die zu seiner Verkleidung paßte, und nahm das schwarze Kästchen heraus. Eunice erschrak.
»Nein, nicht -«, bat sie, »bitte, tun Sie es nicht!«
»Schwören Sie, daß Sie keinen Versuch machen, zu schreien oder die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken?«
»Ja, ja - ich verspreche es Ihnen!«
Sie hoffte immer noch, daß die Beamten vorbereitet wären und sie ohnehin erkennen würden.
»Gut, ich will das Risiko auf mich nehmen, obwohl es töricht ist, Ihnen zu trauen.«
Sie atmete auf, als er das Kästchen in die Tasche zurücksteckte. Der Zug verlangsamte die Fahrt merklich und hielt dann plötzlich mit einem so heftigen Ruck an, daß sie beinahe von ihrem Sitz geschleudert wurde.
»Ist ein Unglück passiert?«
»Ich glaube nicht.« Digby brachte sein Kleid und den schwarzen Hut in Ordnung, ließ das Fenster hinunter und schaute in die Nacht hinaus. Er hörte die Rufe des Zugpersonals und sah Signallampen. Schnell öffnete er die Tür und sah sich nach Eunice um.
»Kommen Sie heraus!« befahl er scharf.
Sie stand erschrocken auf.
»Wir sind doch noch nicht auf dem Bahnsteig?«
»Kommen Sie sofort - erinnern Sie sich an Ihr Versprechen!« Er half ihr vom Trittbrett herunter, faßte sie am
Weitere Kostenlose Bücher