031 - Die Stunde der Ameisen
seiner Tasche geholt hatte. Anschließend kehrten er und Georg zu uns zurück.
Ich hatte bis jetzt noch nie an einer Beschwörung teilgenommen. Außerdem lag es schon viele Jahre zurück, daß der Henker das letzte Mal aktiviert worden war.
Viele der Dämonenfamilien verfügen über Schutzgeister, willenlose Sklaven, Kobolde und Untote. Der Henker der Familie Zamis war aber auch innerhalb der Schwarzen Familie etwas Besonderes. Er war im Kampf gegen die Lexas' vor mehr als fünfzig Jahren erfolgreich eingesetzt worden. Mein Vater hatte den Homunkulus zusammen mit seinem Bruder Ingvar erschaffen. Dieser künstliche Mensch, wenn man dieses Geschöpf überhaupt als Mensch bezeichnen konnte, war kaum zu töten. Es war aus Leichenteilen von mehr als zwanzig Männern zusammengesetzt, die alle eines unnatürlichen Todes gestorben war. Es waren Teile von Pesttoten, Verkehrstoten und Selbstmördern darunter gewesen. Jemand, der den Henker töten wollte, konnte ihn nur vernichten, wenn er genau wußte, welcher Teil zu welchem Toten gehörte. Hatte er zum Beispiel den Arm eines Menschen, der vergiftet wurde, vor sich, dann konnte man diesen Körperteil nur auf die gleiche Art zerstören.
Mein Vater stimmte einen leisen Gesang an, in den wir anderen Familienmitglieder einfielen. Wir faßten uns an den Händen und bildeten um das Familienoberhaupt einen Halbkreis. Vater sang immer lauter. Nach wenigen Augenblicken schien das Kellergewölbe zu beben. Plötzlich hob mein Vater die Hände und kniete sich auf den Boden. Er preßte seine Finger gegen seine Knie und berührte mit der Stirn den Boden.
»Vernimm meine Stimme. Du Wesen, daß von meinem Bruder Ingvar und mir geschaffen wurde! Erwache und unterwirf dich meinem Willen, du Geschöpf, das geschaffen wurde, um die Familie Zamis zu schützen!« Er berührte wieder mit der Stirn den Boden, dann stand er auf, ergriff die Hand meiner Mutter, schloß die Augen, und seine Lippen bewegten sich leicht. Die magischen Kräfte seiner Familie strömten auf ihn über.
Ich fühlte mich plötzlich leer und völlig ausgelaugt. Meine Knie gaben nach.
»Erwache«, sagte Vater laut, »und vernichte unsere Feinde!«
Die magische Flamme wurde schwächer, bis sie zu einem kirschgroßen Punkt geschrumpft war. Der Keller war nun fast in völliges Dunkel gehüllt, und kein Geräusch war zu hören. Ich fühlte, wie ich immer schwächer wurde, so als würde alle Kraft aus meinem Körper gesogen. Die Gestalt meines Vaters war in gleißendes Licht getaucht, das immer greller wurde. Aus seinem Körper züngelte eine Flamme, die langsam über den Boden kroch und sich um den magischen Kreis, der die sargartige Kiste umgab, legte. Die Flamme wurde immer größer. Es dauerte nur wenige Augenblicke, und die Flammen loderten bis zur Decke und verdeckten die Sicht auf die Kiste, in der der Henker ruhte.
Ein leises Heulen ertönte, und die Flammen änderten die Farbe. Sie schimmerten nun dottergelb und wurden langsam orange. Dann erloschen sie. Ein Geräusch war zu hören, das wie das Knarren einer schlecht geölten Tür klang. Die Kiste fiel krachend um. Jemand schnaufte, und dann vernahmen wir ein Räuspern.
»Ich bin erwacht«, sagte der Henker, »und warte auf deine Befehle, Herr.«
»Es ist getan«, sagte Vater und verschränkte die Hände. Der Henker stand ihm genau gegenüber.
Ich ließ die Hände von Georg und Lydia los und sah das grauenvolle Geschöpf interessiert an. Es war mehr als zwei Meter groß und breit wie ein Kleiderschrank. Der klobige Schädel mit den kleinen Augen war völlig kahl. Das Wesen war nackt und hatte vier Arme, die unterschiedlich lang waren. Der gewaltige Oberkörper saß auf langen Beinen, die an junge Baumstämme erinnerten. Das Monster bewegte sich nicht.
»Die Winkler-Forcas' haben uns den Krieg erklärt«, sagte Michael Zamis mit drohender Stimme. »Ich werde dich zu ihnen führen, und du wirst so viele töten, wie du nur kannst.«
Der Henker nickte leicht zum Zeichen, daß er verstanden hatte.
Da vernahm ich plötzlich wieder die unheimliche Melodie! Sanft und leise, aber sie wurde rasch lauter und brachte meinen Kopf fast zum Platzen. Niemand außer mir schien sie zu hören, und ich unterdrückte nur mit Mühe einen Schmerzensschrei. Nur der Henker vernahm sie ebenfalls. Er bewegte ruckartig die vier gewaltigen Arme und drehte sich im Kreis. Über seine vollen Lippen kamen winselnde Laute. Dann krümmte er sich zusammen, fiel auf den Boden und strampelte mit
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