031 - Die Stunde der Ameisen
gehofft hatte. Sie löste den Bann von Toni Obrecht und verkrallte ihre spitzen Nägel verlangend in seinem Rücken. Er hatte nichts davon gemerkt, daß er Vera wichtige Informationen verraten hatte, und sie ließ sich auch nichts anmerken; sie gab sich weiter seinen brutalen Liebkosungen hin.
Georg und ich waren die ersten, die in unserer Villa eintrafen; die anderen Familienmitglieder waren noch unterwegs. Volkart hatte sich mit seinem toten Bruder eingeschlossen und öffnete nicht, als Georg an der Tür klopfte. Mein Bruder hob die Schultern und ging zu mir ins Wohnzimmer, wo ich mich niedergelassen hatte.
Georg setzte sich. »Ich bin gespannt, ob die anderen etwas herausbekommen haben, was unseren Verdacht gegen die Winkler-Forcas' bestärkt.«
Ich spürte ein seltsames Locken in meinem Inneren, das immer stärker wurde. Und dann glaubte ich die unheimliche Melodie zu hören – leise und sehr weit entfernt. Mein Bruder sprach auf mich ein, doch ich verstand ihn nicht.
Ich stand auf. »Ich fühle mich nicht gut«, entschuldigte ich mich. »Vielleicht ist es das beste, wenn ich eine Stunde frische Luft schnappe.«
»Du willst in dieser Situation Spazierengehen?« fragte Georg überrascht.
»Höchstens eine Stunde. Und Angst brauche ich keine zu haben. Wir haben ja das Wort unseres Gegners, daß er bis zum Morgengrauen nichts unternehmen wird.«
Ich trat in die Diele und ging am Hüter des Hauses vorbei, der unbeweglich wie eine Statue dastand. Nur ein flackernder Lichtschein fiel aus den Augenschlitzen der bunten Maske. Ich ging durch den Garten und trat auf die Straße. Da war wieder dieses Locken. Eine Stimme rief mich. Mit jedem Schritt wurde der Drang stärker, und die Melodie in meinem Kopf ein wenig lauter. Sie verwirrte mich. Ich summte sie leise vor mich hin. Die Straßen waren leer; nur selten kam ein Auto vorbei. Nach einigen Minuten hatte ich den Roten Berg erreicht. Es war ein kleiner Hügel, von dem man einen wunderbaren Blick über Wien hatte. Auf einer der Bänke saß ein Liebespaar, das sich durch mich nicht stören ließ.
Es gab zwei Wege, die auf den Berg führten. Einer war ziemlich steil; er wurde meist von Kindern benutzt; der zweite verlief in sanften Serpentinen. Ich wählte letzteren und schritt rasch aus. Die Nacht war warm, der Himmel sternenklar und der Mond voll und rund. Das Locken war jetzt übermächtig geworden, und die Melodie dröhnte in meinem Kopf. Ich blieb stehen und spürte eine Berührung an der rechten Hand. Erschrocken zuckte ich zusammen und wandte den Kopf. Ein blonder Junge stand vor mir. Sein Gesicht war fast mädchenhaft. Das Haar war schulterlang und aschblond. Seine hellgrünen Augen musterten mich.
Ich hatte ihn schon einmal gesehen, das wußte ich, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo und wann das gewesen war.
»Erkennst du mich, Coco?«
Träge schüttelte ich den Kopf.
Der Blondschopf lächelte, dann zog er mich am Ellenbogen mit sich. Wir verschwanden zwischen einigen Büschen und erreichten eine kleine Lichtung.
»Setz dich!« sagte er, und ich gehorchte. Der Junge blieb mit weit gespreizten Beinen vor mir stehen. Das Locken hatte nachgelassen, und die Melodie war schwächer geworden. Und endlich kam mir die Erinnerung! Er erkannte, wie sich mein Gesicht verzerrte. »Jetzt weißt du wieder, wer ich bin, nicht wahr?« schloß er.
Ich nickte voller Abscheu. »Ich weiß, wo ich dich gesehen habe. Aber ich weiß nicht, wer du bist.«
Er lachte. »Unser Plan hat geklappt«, sagte er stolz. »Du bist unser Werkzeug. Hat jemand aus deiner Familie Verdacht geschöpft?«
»Verdacht?« fragte ich überrascht.
Er kicherte zufrieden. »Wißt ihr schon, welche Familie euch den Krieg erklärt hat?«
»Wir tippen auf die Winkler-Forcas'«, sagte ich. »Doch beweisen können wir es bis jetzt nicht. Mein Vater will den Henker einsetzen, sobald er weiß, wo die Familie sich verkrochen hat.«
»Den Henker also«, sagte er nachdenklich. »Wie kann man ihn besiegen?«
Ich zuckte nur die Schultern.
»Du kannst mich nicht belügen, Coco«, sagte der Junge scharf. »Erzähle mir alles, was du über den Henker weißt!«
Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Ich wollte nicht sprechen, doch die unheimliche Macht war stärker; jede Gegenwehr war vergebens. »Der Henker wurde von meinem Vater vor vielen Jahren geschaffen«, sagte ich tonlos. »Es ist ein aus mehr als zwanzig verschiedenen Teilen zusammengesetzter Homunkulus.«
»Ich verstehe«,
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