031 - Die Stunde der Ameisen
mich auf der Stelle übergeben zu müssen. Ich schloß die Augen und atmete rasselnd.
»Sieh nicht hin«, sagte Georg.
Das gierige Schmatzen des Monsters wurde immer lauter, bis es nach einigen Minuten verstummte.
»Den ersten Hunger habe ich gestillt«, sagte Mangold.
Ich öffnete die Augen und sah am Leichenfresser vorbei in den Sarg. Mangold hatte der Toten das Kleid heruntergerissen und den rechten Arm und die rechte Brustseite fein säuberlich abgenagt.
»Jetzt rück endlich raus mit der Sprache!« zischte Georg.
»Sofort«, sagte der Ghoul. »Vor mehr als einem halben Jahr hörte ich das erste Mal das Gerücht, daß es der Familie Zamis an den Kragen gehen soll. Asmodi ist nicht gut auf euch zu sprechen. Es ist anzunehmen, daß er nicht sofort eingreift, sondern abwarten wird, wer als Sieger aus dem Kampf hervorgeht.«
»Ich will nur eines wissen«, sagte Georg. »Wer hat es auf uns abgesehen?«
Der Ghoul grinste und öffnete den Mund, als wieder die Melodie erklang, die ich schon aus dem Munde Demians vernommen hatte! Ferry Mangold brachte kein Wort mehr über die bleichen Lippen. Er wankte hin und her und griff sich mit beiden Händen an die Stirn.
»Was ist mit dir?« fragte Georg verständnislos. Anscheinend konnte er die Melodie nicht hören.
Mangold brach in die Knie. Seine Augen wurden trübe. Er riß sie weit auf und starrte mich entsetzt an. Georg wandte die Spezialität der Familie Zamis an und versetzte sich in einen rascheren Zeitablauf. Wahrscheinlich suchte er die Leichenhalle nach Fallen ab. Ich konnte mir jedoch nicht vorstellen, daß er damit Erfolg haben würde. Eine Sekunde später stand er wieder an der Stelle, an der ich ihn kurz zuvor hatte verschwinden sehen. Stirnrunzelnd schaute er den Leichenfresser an, der sich jetzt auf dem Boden wand und mit Armen und Beinen wild um sich schlug. Die Augen des Monsters wurden glasig, und seine Haut warf Blasen.
Ich stand wie eine Statue da. Die Melodie war in meinem Hirn; sie brachte mein Inneres zum Beben. Ich konnte mich nicht mehr bewegen; die Melodie lähmte mich förmlich!
Georg warf mir einen Blick zu und packte mich am rechten Arm. Er wollte etwas sagen, brach aber ab, als plötzlich ein Geräusch aus dem Sarg ertönte.
Die Tote richtete sich auf, stieg aus der Holzkiste und blieb vor dem Ghoul stehen.
Georg bewegte blitzschnell die Hände und schrie einen Bannspruch, doch er konnte den lebenden Leichnam nicht aufhalten. Hier waren dämonische Kräfte am Werk, denen Georg nichts entgegenzusetzen hatte. Die Tote griff nach dem Ghoul, der vor Schmerzen wimmerte.
»Die Melodie«, keuchte Mangold. »Die Todesmelodie!«
Und dann geschah etwas Unglaubliches. Die Tote riß den Leichenfresser in Stücke, und Georg konnte nichts dagegen tun. Er blickte wieder mich an. Ich stand wie in Trance da. Plötzlich ließ die Tote von Ferry Mangold ab. Aus ihrem Körper schlugen blaue Flammen, die nach dem Leichenfresser züngelten und ihn einhüllten. Der Rumpf und die Gliedmaßen des Ghouls bäumten sich auf, wurden halb durchsichtig und verwandelten sich in schleimige Klumpen, die vom magischen Feuer verzehrt wurden. Die Flammen erloschen schließlich, und die Tote stürzte zu Boden und bewegte sich nicht mehr. In diesem Augenblick konnte ich mich wieder bewegen. Die unheimliche Melodie war verstummt. Verwirrt griff ich mir an die Schläfen. Von den Ereignissen hatte ich kaum etwas mitbekommen.
»Was ist geschehen?« fragte ich schwach.
»Das würde ich auch gern wissen«, sagte Georg. »Als Mangold mir sagen wollte, wer hinter uns her ist, konnte er auf einmal nicht mehr sprechen. Die Tote erwachte zum Leben und zerriß Mangold, während du in einem magischen Bann standest. Da ist etwas faul. Aber wir werden schon herausbekommen, was los ist. Erst aber müssen wir hier mal weg.«
Wir hievten die Tote zurück in den Sarg und ließen Mangolds Überreste verschwinden, dann verließen wir die Leichenhalle und fuhren nach Hause.
Meine Familie hatte sich fast vollständig im Wohnzimmer unserer Villa versammelt. Nur Adalmar fehlte. Mein Vater Michael hörte sich schweigend an, was Georg von unserem Treffen mit Ferry Mangold zu berichten hatte.
»Also wieder nichts«, schloß er. »Solange wir nicht endlich wissen, wer sich mit uns anlegen will, können wir nur wenig unternehmen. Was haben übrigens Mangolds letzte Worte zu bedeuten? Die Melodie – die Todesmelodie? Hat irgend jemand eine Ahnung, was das heißen soll?«
Niemand wußte eine
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