0315 - Wenn der Totenvogel schreit
hochkant aufgestellte Zigarrenkiste mit viereckigen Löchern, den Fenstern.
Auf einem kleinen Parkplatz vor dem Haus hielt Lucy an und sah ihre Freundin bereits am Fenster. Shelly hatte telefonisch Bescheid bekommen. Bis in den zweiten Stock mussten die beiden.
Jeff zog ein Gesicht, als stünde ihm etwas furchtbar Trauriges bevor. Müde schlich er neben seiner Mutter die Stufen hoch.
Shelly stand schon im Flur. Ihr Haar war wie immer superblond gefärbt und der Mund kirschrot geschminkt. »Da seid ihr ja«, rief sie und breitete die Arme aus.
Jeffs Gesichtsausdruck wurde nicht freundlicher, auch nicht, als ihn seine Mutter ermahnte und sich kurz danach verabschiedete.
»Wann bist du wieder zurück?« fragte Shelly noch.
»Das kann ich dir nicht genau sagen.«
»Gegen Abend?«
»So ungefähr. Und gib auf Jeff acht.« Die letzten Worte klangen gepresst. Lucy hatte plötzlich Mühe, die Tränen zu unterdrücken.
Bevor Shelly etwas merken konnte, hatte sich die Frau schon umgedreht und lief hastig die Treppe hinunter.
Sie warf auch keinen Blick mehr zum Fenster hoch und fuhr rasch ab. Lucy nahm den gleichen Weg. Da sie sich in der Gegend auskannte, wusste sie auch von der Abkürzung. Es gab einen schmalen Pfad durch die Felder. Normalerweise wurde er nur von landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen benutzt, bei Lucy war es etwas anderes. Sie musste sich beeilen, und Anzeigen gab es nicht, auch wenn man erwischt wurde.
Schon bald sah sie den Wald des Barons, in dem auch, geschützt von hohen Bäumen, dessen Haus stand.
Die Luft war klar. Selbst am Nachmittag hatten sich noch keine Nebelstreifen gebildet. Dafür sah sie zahlreiche, dunkle Vögel in der Luft. Schwärme von Krähen, die ihre Kreise zogen.
Gegen Vögel hatte Lucy seit kurzem etwas. Aus diesem Grunde beobachtete sie die Tiere auch mit einer gewissen Skepsis, und sie hatte das Gefühl, als würden die Vögel den Wald und damit auch das Haus des Barons nicht aus den Augen lassen. Jedenfalls konzentrierte sich ihr Flug ständig über diesem Gebiet.
War das normal?
Daran konnte Lucy einfach nicht glauben. Sie beobachtete die Tiere jetzt intensiver.
Durch die Unebenheiten des Wegs wurden die Stossdämpfer des Wagens stark beansprucht. Lucy musste das Lenkrad sehr hart umklammern, damit es ihr nicht aus den Händen gerissen wurde.
So fuhr sie weiter und tauchte schon bald in das düstere Waldstück ein.
An die Krähen dachte sie nicht mehr. Sie hatte sie in den letzten Sekunden auch nicht gesehen, zudem musste sie sich stark auf die Straße konzentrieren, denn sie durfte den schmalen Abzweig nicht verpassen, der sie zu ihrem eigentlichen Ziel führte.
Sie entdeckte ihn und bog ab.
Ein enger Weg. Die Zweige und Äste der Bäume kratzten über den Lack des Wagens. Der Boden war uneben. Tiefe Spurrillen hatten ihn gezeichnet, der Morris hüpfte, doch nach einigen Minuten war diese wilde Schaukelei vorbei, da hatte Lucy eines ihrer Etappenziele erreicht.
Sie bog nach rechts in einen asphaltierten Weg ein, der sie zu ihrem Ziel bringen sollte.
Der Wald war an dieser Stelle lichter. Sie brauchte nicht einmal die Scheinwerfer einzuschalten. Gespenstisch sahen die Bäume aus. Die Sonne sank allmählich tiefer, es wurde kälter, und der Frost legte sich wie ein Mantel um den Wald.
Schon hatte sich wieder neues Eis gebildet.
Die Krähen hatte sie vergessen. Um so deutlicher wurde sie wieder an sie erinnert. Vor einer Kurve hockten sie auf der Straße.
Von rechts nach links hatten sie die gesamte Breite eingenommen und sahen aus wie eine schwarze Schnur.
Lucy Finley wurde blass. Automatisch trat sie das Bremspedal nach unten, holte tief Luft und stoppte.
»Das gibt es doch nicht!« flüsterte sie.
Es war keine Täuschung. Die Krähen blieben hocken. Die Köpfe hatten sie zum Wagen hin gewandt. Lucy konnte ihre Augen erkennen und glaubte, in den kleinen, runden Öffnungen so etwas wie Mordlust oder Hass zu lesen.
Kalt rann es ihren Rücken hinab. Wieder dachte sie an den Totenvogel, schaute dabei auf die Krähen und bekam mit, dass diese ihre Schnäbel öffneten, als wollten sie ihr etwas sagen.
Vögel können nicht sprechen. Lucy verstand sie trotzdem. Wie eine Warnung kam es ihr vor.
Sie schluckte. Der unsichtbare Kloß hatte sich in der Kehle festgesetzt, aber sie bekam ihn auch nicht runter, obwohl sie den Schluckvorgang noch zweimal wiederholte.
So leicht ließ sich eine Angst nicht verdrängen…
Der Motor tuckerte im Leerlauf. Lucy starrte
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