0315 - Wenn der Totenvogel schreit
sagte Lady Sarah scharf. »Der hat etwas zu verbergen. Du siehst es.«
Ja, ich sah es. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass der andere so leicht aufgab, und ich wollte Sarah Goldwyn aus der unmittelbaren Gefahrenzone wissen.
»Du bleibst zurück!« fuhr ich sie an.
»Aber…«
»Kein aber jetzt. Es kann verdammt gefährlich werden.«
Das sah sie ein und nickte. Unser kurzer Dialog hatte natürlich Zeit gekostet. Die Sekunden waren von dem Mann genutzt worden.
Nicht nur über eine Treppe konnte man in einen anderen Teil des Schlosses und in andere Räume gelangen, auch durch zwei Türen, die von dieser Halle abzweigten. Auf eine solche Tür war der Baron zugestürzt und hatte sie schon aufgerissen. Wie ein Schatten huschte er über die Schwelle.
Ich eilte ihm nach und erreichte den Ausgang in dem Augenblick, als der Duke von der anderen Seite her die Tür zurammte. Fast wäre sie noch gegen meinen Körper geprallt. Im letzten Moment nahm ich den Kopf zurück, schlug auf die Klinke und drückte gleichzeitig meinen Fuß gegen das untere Drittel.
Jetzt schwang die Tür auf.
Der Raum dahinter war groß und fast leer. Nur an den Wänden standen einige Stühle mit hohen Lehnen.
Und ich sah den Baron.
Er hatte sich weit zurückgezogen, war geduckt stehen geblieben und hatte die Arme ausgebreitet, als wäre er selbst ein Vogel.
Ein schrecklicher Verdacht keimte in mir hoch. Da ich Gewissheit haben wollte, stellte ich eine Frage. »Sind Sie selbst der Totenvogel?«
Er lachte nur.
Dabei bewegte sich der Mund ruckartig, und sein Lachen kam mir in der Tat vor wie das Krächzen eines Vogels. Vielleicht bildete ich es mir auch ein, aber das alles war jetzt uninteressant.
Ich wollte ihn haben!
»Sie entkommen mir nicht, Baron. Ich weiß mittlerweile, dass Sie es sind, der…«
»Hau ab, Polizist!« schrie er mir entgegen. »Verschwinde! In deinem eigenen Interesse!«
»Nein!«
»Dann hast du dir deinen Tod selbst zuzuschreiben.« Er duckte sich noch mehr zusammen und streckte auch die Arme weiter vor.
Wollte er sich verwandeln?
Ich ging schneller.
Das war mein Fehler.
Schon öfter war ich in hinterlistige Fallen geraten. So auch in diesem Fall. Irgendwo musste ich einen Kontakt im Boden berührt haben. Plötzlich verlor ich den Halt unter den Füssen, sah vor mir das große schwarze Loch, wollte mich vorwerfen, aber ich schaffte es nicht mehr.
Die Tiefe verschlang mich!
Zuletzt hörte ich noch das schrille Lachen des Barons. Es klang tatsächlich so, als hätte es ein Vogel ausgestoßen…
***
Lucy Finley hatte den dunkelblauen Morris aus der Garage geholt, ihren Sohn auf den Rücksitz gesetzt und war gefahren.
»Warum fahren wir denn weg?« fragte der Junge.
»Ich bringe dich nur zu Tante Shelly.«
»Aber da will ich nicht hin.«
»Es ist nur für kurze Zeit.«
»Und warum?«
»Das kann ich dir nicht erklären, Jeff. Bitte, tu mir einen Gefallen und sei ruhig!«
»Das ist wegen des Vogels, nicht?« Jeff beugte sich vor. Er legte seine Arme auf die Oberkante der Beifahrersitz-Lehne.
»Möglich.«
»Doch, Mummy, ich weiß es. Das ist nur wegen des Vogels. Er ist gefährlich, ich habe ihn ja gehört. Und der kommt in der nächsten Nacht bestimmt zurück.«
»Das glaube ich nicht.«
»Ja, Mummy, und Daddy ist nicht da. Ich… ich habe Angst.«
»Bei Tante Shelly brauchst du keine Angst zu haben, Jeff.« Die Frau hatte es eilig, dennoch musste sie vorsichtig fahren, da die Straße stellenweise mit Eis bedeckt war.
Lucy wusste, dass sie alle in einer unheimlichen Gefahr schwebten, nur das konnte sie ihrem kleinen Sohn nicht sagen. Wenigstens ihn wollte sie aus der unmittelbaren Gefahrenzone bringen, um anschließend selbst die Initiative zu ergreifen, denn um ihren Mann wollte sie kämpfen. Sie hatte erlebt, wie er von seinem Arbeitgeber, dem Baron, heruntergeputzt worden war. So etwas machte sie nicht mit. Sie waren freie Menschen und keine Sklaven oder Leibeigene.
Shelly, die der Junge als Tante bezeichnete, war eine nicht verheiratete Freundin von Lucy. Sie wohnte fünf Meilen entfernt und lebte mit ihrer 70jährigen Mutter zusammen, die sie pflegte, weil die Frau bettlägerig war.
Jeff fuhr nicht gern zu ihr, weil er dort still sein musste, aber es gab für Lucy keine andere Lösung. Bei Shelly war der Kleine sicher, außerdem war es nicht für eine längere Zeit, das hoffte sie jedenfalls.
Die Freundin und ihre Mutter wohnten in einem Neubau. Das Haus sah aus wie eine übergroße
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