032 - Die magische Seuche
ein wenig auf das Bett zu legen.
„Es ist alles in Ordnung, Madame“, sagte er. „Wir werden Sie noch für einige Tage zur Beobachtung hierbehalten. Aber von heute abend an können Sie essen, was Ihnen schmeckt, und morgen können Sie im Garten Spazierengehen, wenn Sie Lust dazu haben.“
Wir ließen eine Krankenschwester bei ihr und gingen langsam in Leons Büro zurück.
„Ich bin froh, daß es tatsächlich so unkompliziert ging, wie ich erhofft habe“, sagte Leon. „Wir müssen jetzt die Gewebeproben auswerten.“
„Ja“, sagte ich. „Obwohl es auf den ersten Blick wie normales Muskelgewebe aussieht. Trotzdem, ob wir dadurch dem Geheimnis dieser Krankheit auf die Spur kommen, erscheint mir mehr als fraglich. Im Augenblick können wir nur abwarten.“
Ich hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als hinter uns auf dem Korridor eilige Schritte erklangen. Wir drehten uns um. Eine Krankenschwester näherte sich vom anderen Ende. Es war dieselbe, die wir bei Madame Dorne gelassen hatten.
„Herr Doktor!“ rief sie und winkte. „Herr Dr. Nelsy!“
Wir ließen sie herankommen.
„Herr Doktor, Madame Dorne.“
„Was hat sie?“
„Ich glaube, sie ist tot. Sie hat einen kleinen Schrei ausgestoßen und …“
Wir eilten zurück.
Madame Dorne atmete nicht mehr. Ihr Herzschlag hatte ausgesetzt.
Wir ließen sie in aller Eile auf die Intensivstation bringen. Es war vergebens.
„Wir brauchen eine Autopsie.“ sagte ich niedergeschlagen.
Wir bekamen sofort die Bewilligung. Aber die Autopsie ergab keine Resultate. Sie bestätigte nur unser vorheriges Untersuchungsbild. Madame Dornes Organismus war völlig gesund. Der Tod war ohne erkennbaren Grund eingetreten, ein Herz, das ausgezeichnet funktionierte, hatte aufgehört zu schlagen. Das war alles.
Wir waren am Boden zerstört. Nelsys Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen.
„Ich hätte diese Operation nie durchführen dürfen!“ rief er.
Es war ein entsetzlicher Tag.
Der Versuch, Madame Dorne zu operieren, war natürlich nicht geheimgehalten worden. Es wäre auch schwer möglich gewesen. Und ihr Tod versetzte die kleine Stadt in Angst und Schrecken. Diejenigen, die an der Krankheit litten und bis dahin ihre Hoffnung auf uns Ärzte, und besonders auf Leon Nelsy, den Chirurgen, gesetzt hatten, waren verzweifelt und erwarteten einen langsamen, qualvollen Tod. Und diejenigen, die eine Ansteckung fürchteten, fürchteten sie jetzt noch mehr.
Ich ging am späten Nachmittag nach Hause, nach einem aufreibenden Tag an der Klinik. Nelsy hatte einige Telefonate mit Paris geführt und das Ministerium von den Geschehnissen am Morgen in Kenntnis gesetzt. Außerdem sprach er mit einigen medizinischen Größen, die an der Sitzung in Paris teilgenommen hatten. Die Fachleute waren sich einig. Jeder chirurgische Eingriff bei den Erkrankten war zu unterlassen – zumindest bis auf weiteres.
Als ich auf den Kirchenplatz kam, sah ich vor mir eine Menschenmenge, die sich um einen wild gestikulierenden Mann im blauen Arbeitsdreß scharte. Der Mann stieß einen schrillen Schrei aus, und die Menge wich etwas zurück.
Ich erkannte Louis Grangil, den jungen Mechaniker, Leons Patienten, den ich in der Zwischenzeit auch selbst untersucht hatte.
Er war bloßfüßig. Er hob sein rechtes Bein und zeigte den Umstehenden seine große Zehe, die unförmig lang war und seinen Fuß fast doppelt so lang erscheinen ließ als den linken.
„Schaut her“, rief er. „Schaut her, in welchem Zustand ich bin. Schaut euch die Schlange an, die mir statt meiner großen Zehe aus dem Fuß wächst. Und sie wächst immer weiter. Tag für Tag. Immer schneller. Ich kann keine Schuhe mehr anziehen, schon lange nicht. Ich werde krepieren wie ein Hund.“ Er verfiel in wildes Schluchzen. Dann schüttelte er seine großen Fäuste in die Menge. „Und das wird euch allen passieren. Ihr werdet Warzen am ganzen Körper bekommen, so groß wie meine Faust. Und Finger werden euch aus der Wange wachsen wie Pater Fauchin. Und eins eurer Beine wird länger werden wie bei Huglan dort oben auf dem Hügel. Oder ihr schrumpft einfach ein und werdet immer weniger. Das ist ärger als die Pest. Und ihr werdet alle draufgehen, das sage ich euch.“
Er war völlig außer sich. Er schrie, zeigte seinen monströsen Fuß herum, und seine Augen sprühten Feuer.
Da bemerkte er mich und zeigte mit dem Finger herüber.
„Ah! Dr. Blaine! Na, Sie können auch stolz sein auf sich. Sie und Ihre Kollegen, die nichts
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