032 - Seelenträger
Boden hinab. Erneut schauderte er bei der Darstellung des grimmigen Hydriten auf dem Schädelthron, der auf seine streitenden Armeen hinab sah.
Ehrfürchtig strich Matt über die Muscheln, Korallen und Pflanzen, aus denen sich das Bild zusammen fügte. Ein leises Kribbeln lief durch seine Fingerspitzen, als ob eine elektrische Spannung auf ihn überspringen würde.
Dann hörte er eine dumpfe Stimme in seinem Kopf, die berichtete: Einst waren die Hydriten ein kriegerisches Volk, das Mar'os, den dunklen Urvater anbetete. Er war ein despotischer Meeresgott, der das Recht des Stärkeren vertrat und alles Schwache verabscheute. Zu dieser Zeit lebten wir von der Jagd und verzehrten Fische in jeder Größe. Selbst Haie, Kraken und Urzeitungeheuer waren nicht vor unseren Dreizack-Attacken sicher. Die Hydriten von Allatis, Posedis und Maaris (Atlantik, Pazifik und Indischer Ozean) lagen in ständiger Fehde miteinander, denn sie rangen um die Vorherrschaft.
Dies änderte sich erst mit dem Auftauchen von Ei'don, dem Sohn der Tiefe, der aus der unergründlichen Finsternis des großen Grabens stammte, der für uns bis heute unerforschtes Gebiet ist.
Ei'don einigte die zerstrittenen Stämme von Posedis in den pylonischen Kriegen und unterwarf die Hydriten der übrigen Ozeane. Dies war der Beginn einer neuen Zeitrechnung, die mittlerweile 3936 Rotationen währt.
Nach all der Zeit des unerbittlichen Ringens hatten sich die Hydriten so sehr dezimiert, dass sie nur noch in weit verstreuten Enklaven lebten. Als der neue Herrscher die Bitterkeit seines Sieges erkannte, überkam ihn die göttliche Eingebung, der wir unser heutiges Leben verdanken.
Ei'don verfügte, dass die Lehren des Mar'os keine Gültigkeit mehr hätten. Gewalt wurde zur Wurzel allen Übels erklärt, die Jagd auf andere Meeresbewohner und deren Verzehr gänzlich verboten.
Innerhalb einer Generation wurde wir von Jägern zu Vegetariern. Damit einher setzten sich Ei'dons Thesen zu einem friedlichen Miteinander unter den Hydriten durch. Nach Ei'dons Tod wurde er zur obersten Gottheit ernannt.
Ohne es zu merkten, war Matt weiter gepaddelt und bei den Bildern von Ei'dons Sinneswandel angelangt. Die Informationen, die von den Muscheln ausgingen, hatten die Ereignisse in seinem Kopf lebendig werden lassen. Die Bilder waren viel intensiver als ein Film, denn er schien sich mitten im Geschehen zu befinden.
»Dieser Platz wurde geschaffen, um die Bürger Hyktons mit der Geschichte ihres Volkes vertraut zu machen«, erklärte Bel'ar. »Sehen Sie sich in Ruhe um, das ist der beste Weg, unsere Kultur zu verstehen.«
Matt ließ sich das nicht zweimal sagen.
Fasziniert streifte er zwischen den Bildern umher.
Wo ihm etwas besonders interessant erschien, streckte er die Hand aus und ließ sich von den gespeicherten Erzählungen gefangen nehmen. Auf diese Weise erfuhr er von den ersten Begegnungen zwischen Hydriten und Menschen.
Es war kein Zufall, dass die griechischen Namen Märe und Poseidon den Urvätern der Hydriten so sehr ähnelten.
Es hatte immer wieder sporadische Kontakte zu Landbewohnern, insbesondere Seeleuten gegeben, dabei waren die Namen überliefert worden.
Die Menschen reagierten bei vielen dieser Begegnungen mit Schrecken und gingen gewalttätig gegen die vermeintlichen Seeungeheuer vor. Die friedliebend gewordenen Hydriten beschlossen deshalb, den Kontakt mit der Oberfläche soweit wie möglich zu vermeiden. Ihre natürliche Fähigkeit zur Luftatmung wurde immer weniger genutzt, blieb aber trotz Degenerationserscheinungen bis zum heutigen Tage erhalten. Außerdem gab es stets Individualisten, die die Gesetze missachteten und mit einzelnen Menschen geheime Kontakte zum beiderseitigen Nutzen unterhielten. Dabei kam es mitunter zu Freundschaften und Liebesbeziehungen, die zu den menschlichen Legenden der Meerjungfrauen und Wassermänner führten.
Die Evolution der Hydriten erhielt durch die Begegnungen mit den Landbewohnern entscheidende Impulse. Da technologischer Fortschritt häufig durch Kriege beschleunigt wird, hatten die Menschen den pazifistischen Hydriten in diesem Punkt einiges voraus. Deshalb gab es durch die Jahrhunderte stets Beobachter, die das Leben an Land insgeheim observierten.
Das latente Wissen um die Existenz der Meeresbewohner ging den Menschen in der Zeit der Aufklärung endgültig verloren. Je weiter sie mit ihren Dampfschiffen die Ozeane erschlossen, desto vorsichtiger wurden die Hydriten. Nur noch wenige Landbewohner wussten von
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