032
letzte verfilzte Strähne zu Boden fiel, erinnerte Carys sich plötzlich, dass Telor sie eine dumme Schlampe genannt hatte. Vorhin hatten diese Äußerungen keine Bedeutung für sie gehabt. Morgan und Ulric hatten oft viel schlimmere Dinge zu ihr gesagt, wenn sie sie verärgert hatte. Telor hatte seine Bemerkungen jedoch so gemeint. Carys wusste, er schämte sich ihrer.
Die Reaktion auf diese Erkenntnis war jähe Ungläubigkeit. Nie zuvor war ihr Wert infrage gestellt worden! Sowohl Morgan als auch Ulric waren sehr stolz auf sie gewesen und hatten sie wie ihr kostbares Eigentum vorgeführt. Sie hatte Angebote gehabt, sich anderen Truppen anzuschließen, das indes nicht getan, weil sie Morgan Dank dafür schuldete, dass er sie als Kind zu sich genommen und unterrichtet hatte.
Und nach seinem Tod hatte Ulric sie beschützt, so dass sie auch ihm Dank schuldig gewesen war. Abgesehen davon, war er trotz seiner Körperkraft so dumm und hilflos gewesen, dass sie sich nicht imstande gesehen hatte, ihn zu verlassen.
Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie kaum fühlte, wie die Wirtin den Kamm durch das gekürzte Haar zog und an den noch verbliebenen Verfilzungen zerrte, bis er widerstandslos hindurchglitt. Der innere Schmerz war viel größer als der, der durch das Zerren am Haar verursacht wurde. Für Carys war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass sie und Telor auf derselben Stufe standen, weil sie beide Fahrensleute waren. Über die Anzeichen dafür, dass er wohlhabend war, hatte sie nicht lange nachgedacht. Sie hatte nur daran gedacht, dass er es sich leisten könne, sie zu ernähren, und vielleicht auch, sie zu kleiden. Jetzt begriff sie, dass er eine ganz andere Art von Spielmann sein musste, jemand, der vor Herren auftrat und vielleicht den vornehmen Damen süße Liebeslieder in die Ohren raunte und ihre weichen, weißen Hände küsste.
Etwas in ihr schrumpfte zusammen und verkümmerte,
bis sie sich krümmte. Die Wirtin klopfte ihr auf die Schulter. „Aber, aber, Kind", sagte die Frau. „Ich habe dich nicht kahl geschoren. Siehst du, das Haar reicht noch fast bis zu den Schultern. Niemand wird das bemerken, wenn du ein Tuch lose darumwickelst." Dann zog sie Caiys' Kopf zu sich, drückte ihn in den Nacken und fuhr lachend fort: „Und du bist ein so hübsches Ding. Niemand wird sich wundern, selbst wenn er Bescheid weiß."
Nach diesen Worten und dem leicht neidischen Unterton in der Stimme der Wirtin beruhigte Carys sich wieder. Sie wusste, dass sie hübsch war. Viele Männer hatten ihr das gesagt, selbst einige, die nicht mit ihr hatten schlafen wollen. Viel wichtiger noch war, dass sie eine gute Seiltänzerin war, eine der besten Tänzerinnen, wie man ihr versichert hatte. Es gab nichts, dessen sie sich schämen musste. Sie richtete sich auf. Sie war ebenso gut wie jeder Barde, der ein geziertes Wesen hatte. Telor hielt sie für eine Schlampe? Warum war er dann so darauf bedacht, von ihr begleitet zu werden, dass er sogar für das Bad zahlte?
Plötzlich kam ihr ein ganz anderer Grund dafür in den Sinn, dass er sie als Junge verkleiden wollte. Wenn man sie für einen Jungen hielt, würden andere Männer sie nicht begehren. Konnte das nicht sein eigentlicher Grund sein? Sie lächelte die Frau an und schüttelte den Kopf. Dadurch lockerte sie die glatt gekämmte Frisur, die die Wirtin ihr gemacht hatte. Sie hob die Hand, berührte ihr Haar und lächelte wieder.
„Ja, es wird nachwachsen", sagte sie zu der Frau, wobei sie die Ausdrucksweise unbewusst der der Wirtin anpasste, so wie sie das zuvor bei Telor getan hatte.
Es war leicht für sie, Akzente und Tonfall zu imitieren. Sie hatte ein gutes Gehör und war gewohnt, Rollen zu spielen, die eine unterschiedliche Ausdrucksweise bedingten. Da Morgan sie gelehrt hatte, möglichst so zu reden, wie die Leute in ihrer Umgebung, hatte sie keine ihr eigene Art, sich zu artikulieren. Er hatte gesagt, ein fremder Akzent ließe auf einen Fremden schließen, und für die Leute, die ständig an einem Ort lebten, waren Fremde immer Menschen, denen man misstrauen musste.
Und der Erfahrung nach war es sicherer, auch nicht für einen fahrenden Gaukler gehalten zu werden.
„Im Übrigen passt das kurze Haar viel besser zu den Sachen, die mir geliehen wurden", fuhr Carys fort, damit Telor sie hörte, wenngleich sie immer noch mit der Wirtin zu reden schien.
„Gut." Die Frau erwiderte Carys' Lächeln, wandte sich dann ab, zog das Kleid und das Unterhemd aus
Weitere Kostenlose Bücher