033 - Die Herberge der 1000 Schrecken
zur Seite. Sein schiefes Gesicht mit den
weit aufgerissenen Augen starrte den greisen Vater an. Mit ruckartigem Nicken
erhob sich Ricardo. Ein blödes Grinsen lag auf seinen Zügen.
Alfredo Gonzales preßte die Lippen zusammen. Es schmerzte ihn
jedesmal neu, wenn er seinen Sohn so sah und so erleben mußte. Er konnte sich
an den Anblick nicht gewöhnen. Und Ricardos Karriere hatte so vielversprechend
begonnen. Er hatte Schaupieler werden wollen, und er besaß ein ausgeprägtes
Talent, das hatten ihm viele Kritiker bestätigt. Auf zahlreichen Bühnen hatte
er schon gestanden, eine erste Filmrolle lag hinter ihm, und es war ihm eine
Hauptrolle in einer über dreißig Folgen laufenden Abenteuerserie aus dem
Spanischen Bürgerkrieg angeboten worden. Doch den Vertrag hierzu hatte Ricardo
schon nicht mehr unterschreiben können. Ein schwerer Autounfall unterbrach jäh
seine Karriere. Wochenlang kämpften die Ärzte um sein Leben. Die Ersparnisse
schmolzen zusammen. Es gelang, Ricardo zu retten.
Doch der Unfall hatte ihn zum Idioten werden lassen. Die Ärzte
hatten zwar immer gehofft, daß eine Regeneration gewisser Nervenverbindungen
eintreten würde, beziehungsweise daß andere Nervenbahnen bestimmte Funktionen
übernehmen könnten, wenn auch nicht hundertprozentig, so doch in gewissem
Umfang. Diese Hoffnung hatte sich leider nicht erfüllt.
Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatten sich die alten
Eltern, die recht und schlecht ihr Leben von den bescheidenen Einkünften
bestritten, die die Herberge abwarf, des kranken Ricardo angenommen. Sie taten
alles, um ihrem nun schwachsinnigen Sohn das Gespött der Öffentlichkeit zu
ersparen. In der zurückgezogenen Einsamkeit der Berge war der rechte Platz.
Nicht einmal die Gäste der alten Herberge wußten, daß das Ehepaar Gonzales
einen Sohn hatte, der durch einen Unfall zum Idioten geworden war.
Ricardos Zimmer lag direkt unter dem schrägen Dach der Herberge.
Sie hatten ihm einen der verschachtelt liegenden Räume eingerichtet, in dem er
sich den ganzen Tag über aufhielt. Mit dem Unfall hatte sich sein Leben von
Grund auf geändert.
Über eine verborgene Tapetentür gelangten sie in einen finsteren
Gang, der zwischen der Außenwand des nördlichen Traktes und den Zimmern auf der
anderen Seite durchführte. Der Wirt ließ seine Taschenlampe aufleuchten, die er
immer bei sich trug. In diesem Teil der Herberge gab es kein elektrisches
Licht.
Der Gang war so schmal, daß sie hintereinander gehen mußten.
Alfredo Gonzales ließ seinen schwerfällig laufenden Sohn vor sich hergehen,
immer den Lichtstrahl der Lampe zwei Schritte vor ihm herführend.
Ricardo plapperte unaufhörlich vor sich hin, mit dumpfen
zusammenhanglosen Worten.
Alfredo Gonzales sagte zwischendurch immer wieder einmal ein »Ja«
oder »Hmm«, obwohl er kaum ein Drittel von dem verstand, was sein Sohn ihm
sagen wollte.
Während er mechanisch hinter Ricardo folgte, mußte er daran
denken, daß auch sein eigenes Leben entscheidend geformt worden war. Ein
Ereignis in seinem Leben hatte seine Einstellung zu den Menschen und den Dingen
grundsätzlich verändert. Es war vier oder fünf Monate nach der Entlassung
Ricardos aus der Klinik gewesen. Ricardo lebte damals schon in der Herberge,
vor den Augen der Welt und der Menschen verborgen.
Er, Alfredo, und seine Frau, schliefen in dem Zimmer gleich neben
der Küche unten. Mitten in der Nacht geschah es! Der Fremde tauchte plötzlich
in ihrem Zimmer auf. Niemals in seinem Leben würde der Wirt diese gespenstische
Szene vergessen: Die fremde, hochgewachsene Gestalt in den merkwürdigen
Kleidern aus einem anderen Jahrhundert! Er sprach ihn, Alfredo, an. Er
behauptete, der eigentliche Herr dieser Herberge zu sein. Er kannte das
Schicksal des kranken Ricardo und wußte über die finanziellen Schwierigkeiten
der Gonzales Bescheid. Er stellte nicht nur Bedingungen, er drohte und warnte
auch. Von diesem Tag an war Alfredo Gonzales nur noch eine Marionette in den
Händen einer anderen Macht. Er war Eigentümer der Herberge - und war es doch
nicht. Die Fäden liefen in den Händen jenes geheimnisvollen Mannes zusammen,
dem nichts entging, der über alles Bescheid wußte und der hinter diesen Mauern
allgegenwärtig war.
Alfredo Gonzales konnte nichts dagegen tun. Seine Existenz stand
auf dem Spiel - und vor allen Dingen das Leben seines Sohnes. Nur der Gedanke
daran war es, der ihn dazu brachte, die Dinge hier treiben zu lassen.
Und noch etwas anderes kam hinzu,
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