0330 - Die lebende Legende
reichte seinem Gast nach europäischer Art die Hand.
Suko nahm sie entgegen. Die Haut fühlte sich sehr kalt an. Zudem war sie trocken.
»Ich freue mich, dich gesund und munter zu sehen, mein Freund Suko. Deine Taten haben sich bis zu mir herumgesprochen. Du bist ein Mann geworden, den die Mächte der Dunkelheit fürchten.«
»So schlimm ist es nicht, weiser Chu Weng. Man übertreibt viel, wenn man erzählt.«
»Die Berichte, die mich erreichen, entsprechen schon der Wahrheit«, erklärte der alte Mann und ließ die Hand seines Besuchers los.
Er kam um seinen Schreibtisch herum und ging auf eine Sitzgruppe zu, die im Hintergrund des Raumes stand.
Suko folgte ihm. Dabei hatte er Zeit, den anderen zu beobachten.
Chu Weng trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte.
Er kleidete sich gern westlich, auch wenn er in einer Umgebung lebte, die der westlichen Machart widersprach. Er war sehr klein, fast zierlich.
Der schmale Kopf schaute aus dem Kragen und wirkte wie der Schädel eines Vogels. Er besaß auch keine Haare.
Suko wartete, bis Chu Weng seinen Platz gefunden hatte, dann ließ auch er sich nieder. Das Gesicht seines Gegenübers war glatt.
Trotz des hohen Alters zeigte es kaum eine Falte.
Tee wurde gebracht. Ein weiß gekleideter Diener servierte ihn in hauchdünnen Porzellantassen.
Als der Mann verschwunden war, tranken die beiden zur Begrüßung und redeten anschließend über vergangene Zeiten. Suko kannte so etwas. Das gehörte zur Zeremonie. Er fühlte sich wieder zurück in die Jahre versetzt, als er noch nicht in London lebte. Sie sprachen von gemeinsamen Bekannten und von der Schule, in der Suko erzogen worden war. Jahre zuvor hatte auch Chu Weng dort seine Ausbildung bekommen. Das war ähnlich wie bei den Pfadfindern.
Plötzlich waren die Gemeinsamkeiten da, und es lag auf der Hand, daß der eine den anderen unterstützte.
Nur allmählich stießen sie zum eigentlichen Kern des Problems vor.
Suko berichtete über den Grund seines Besuches.
»Ich bin gekommen, um gegen einen Dämon und dessen Macht anzukämpfen. Die Spur brachte mich hierher. Ich kam in eine Stadt, die für mich fremd ist, und bin auf Hilfe angewiesen.«
»Deine Sorgen sind auch die meinen, Suko. Bitte, sprich dich ruhig aus!«
»Es geht um Ninja.«
Der alte Mann nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Ninja«, wiederholte er und schaute auf seine Teetasse. »Ja, ich habe von ihnen gehört. Sie können sehr wertvoll für eine gute Sache sein, aber auch sehr schlimm.«
»Das trifft für mich zu.«
»Wer ist es?«
»Shimada!«
»Ein Dämon.«
Suko nickte.
»Manchmal«, bekam er zur Antwort, »liegen die chinesische und die japanische Mythologie dicht beisammen. Auch wir wissen über Shimada Bescheid. Ist er nicht verbannt worden? Hat er nicht den Fächer?«
»Das stimmt, aber er ist zurückgekehrt. Die lebende Legende ist wieder da. Sie hat bereits gemordet.«
»Wer wurde getötet?«
Suko erzählte von Helen Price.
»Wir hörten davon«, erwiderte Chu Weng. »Auch wir waren bestürzt, aber wir verfolgten den Fall nicht weiter, obwohl wir eigentlich hätten aufmerksam werden müssen, denn man hat sie auf eine bestimmte Art und Weise getötet, indem man sie köpfte.«
»Das stimmt, großer Chu Weng.«
»Und dies hat Shimada getan?«
»Ich weiß es nicht genau. Zumindest waren er und seine Helfer daran beteiligt.«
»Und was kann ich für dich tun, Suko?«
»Ich möchte dich bitten, deinen Leuten zu sagen, daß sie die Augen aufhalten. Irgendwo müssen die Ninja Spuren hinterlassen. Die können nicht einfach auftauchen, töten und spurlos verschwinden. Daran will ich nicht glauben.«
»Da hast du recht, Suko. Woher kamen sie?«
»Aus dem Meer.«
Chu Weng verzog keine Miene, als er die Antwort vernahm. Daß er durchblickte, bewies seine nächste Frage: »Sind es lebende Ninja, oder gehören sie bereits ins Reich der Toten?«
»Das habe ich noch nicht herausgefunden, weil wir keinen Kontakt zu ihnen hatten. Es wird ihnen allerdings bekannt sein, daß mein Freund John Sinclair und ich uns in der Stadt aufhalten. Wenn Shimada das erfährt, wird er alles daransetzen, um uns zu töten. Deshalb möchte ich dich bitten, sehr vorsichtig zu sein.«
Chu Weng lächelte. »Ich danke dir, Suko, aber wir sind es gewohnt, von Feinden umgeben zu sein.«
»Natürlich, verzeih.«
»Es gibt nichts zu verzeihen. Ich freue mich sehr, daß es dir gutgeht und du deinen Weg gemacht hast. Viele, die bei den
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