035 - Das Dorf der Kannibalen
hielt.
»Sie sind ein Ignorant!« fuhr ihn der Mathematiker gereizt und ängstlich zugleich an. »Wo bitte befinden wir uns?«
»In einem Kellerloch.«
»Und wohin brachte man uns, als wir das Motel erreicht hatten?«
»In ein Kaminzimmer«, sagte der Oberst. Er bekam einen roten Kopf, wollte noch etwas sagen, hüstelte und preßte die Lippen zusammen. Er beschloß, sich nicht mehr an der Unterhaltung zu beteiligen.
»Man hat uns hypnotisiert«, sagte der Mathematiker.
Die Reisenden redeten laut und aufgeregt durcheinander.
Die alte Dame ging zur Tür, die jetzt aus dicken Bohlen bestand. Sie versuchte die Tür zu öffnen, doch das ging nicht. »Wir sind eingeschlossen!« rief sie mit schriller Stimme.
»Das ist Freiheitsberaubung!« brüllte der Oberst, der seinen Entschluß geändert hatte.
»Ruhe!« bat der Mathematiker und breitete beschwichtigend die Arme aus. Er wartete, bis die Aufregung sich ein wenig gelegt hatte. »Fragen wir uns doch, wer uns hier festhält – und warum man uns einsperrt.«
»Eine Massenentführung«, sagte der Tourist, der als erster die Verwandlung des Kaminzimmers bemerkt hatte. »Man will Lösegeld von uns.«
»Hier sind handfeste, politische Gründe im Spiel«, stellte der Oberst fest. »Deutlicher brauche ich wohl nicht zu werden.«
»Wir sind nicht entführt worden«, korrigierte der Mathematiker. »Die Buspanne war ein Zufall, wenn ich daran erinnern darf. Das Dorf und das Motel hier fanden wir erst nach längerem Herumirren.«
»Das alles waren doch gemeine Tricks«, behauptete der Oberst, der schon wieder einen roten Kopf bekam.
»Sind wir überhaupt noch vollzählig?« fragte der Mathematiker.
»Unser Busfahrer fehlt«, rief jemand, »und die nette alte Dame, deren Namen ich vergessen habe.«
»Mrs. Agatha Harmon«, erinnerte sich eine Frau. »Ich vermisse auch das Ehepaar Bangster oder wie es hieß.«
»Wo steckt eigentlich dieser Lister, der bei unserem letzten Zwischenhalt so hinter der weiblichen Bedienung her war und sich eine Ohrfeige einhandelte?« Der Oberst hatte diese Frage gestellt und lächelte hämisch, als er an den Vorfall dachte.
»Mr. Hatters fehlt auch. Das ist der Herr, der Rezepte sammelt.«
»Also sechs Personen«, faßte der Mathematiker zusammen. »Ich stehe vor einem Rätsel.«
Schweigen breitete sich aus, bis der pensionierte Oberst mit dem Griff seines Regenschirms gegen die Bohlentür pochte. »Ich protestiere in aller Form gegen diese unwürdige Unterbringung!« brüllte er. »Das wird Konsequenzen haben!«
»Wir müssen die Tür aufbrechen«, konstatierte der Mathematiker und erschien neben dem Oberst vor der Tür. »Leider sieht sie sehr solide aus.«
»Man will uns umbringen, nicht wahr?« fragte die alte Dame ruhig.
»Sie stehen selbstverständlich unter meinem Schutz«, versprach ihr der Oberst, der jetzt allerdings ein wenig nachdenklich wirkte.
»Achtung, ich höre etwas!« Der Mathematiker hob warnend die Hand und preßte sein Ohr gegen die Bohlen.
Jetzt hörten sie alle schleifende Geräusche, schleppende Schritte und schrilles Kichern dicht vor der Tür. Angst stieg in den Reisenden hoch, als das Zurückziehen schwerer Türriegel zu hören war.
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Die alte Dame neben dem Mathematiker sah durch den Türspalt und stieß einen spitzen Schrei aus.
»Was ist passiert, Eva?« erkundigte sich Dorian Hunter.
»Er will Sie umbringen.«
»Werden unsere Gedanken von ihm angezapft?«
»Ich habe die Sperre wieder aufbauen können«, antwortete sie hastig. »Hoffentlich kann ich sie jetzt etwas länger halten, Dorian. Ich habe schreckliche Angst. Sind Sie wieder angegriffen worden?«
»Dort liegt das Scheusal«, gab er lakonisch zurück. »Dieser Jemand hat es auf mich gehetzt. Zuerst erschien es als Trevor Sullivan.«
»Ist es tot?«
»Ja. Seit wann arbeiten Sie in diesem Motel?«
»Seit gut anderthalb Jahren.«
»Und wie sind Sie hierher gekommen? Stammen Sie aus dem Dorf?«
»Dort wurde ich geboren. Aber ist das jetzt so wichtig? Wir müssen etwas unternehmen.«
»Welche Gäste wohnen im Motel?«
»Ich kenne diese Leute nicht.«
»Aber der Jemand zapft über Sie die Gedanken der Gäste an, nicht wahr?«
»Ich kann es nur vermuten. Mein Kopf ist so leer …« Sie faßte nach ihren Schläfen.
»Stammen diese kahlköpfigen Spitzohren aus dem Dorf?«
»Als Kind habe ich sie nie gesehen. Sie müssen von auswärts gekommen sein. Aber seit ich sie kenne, habe ich Angst vor
Weitere Kostenlose Bücher