0356 - Die Tarot-Hexe
Und so wie sie für Zamorra nur zwei Karten gebraucht hatte, brauchte sie für sich selbst nur eine.
Und sie zog den Turm.
***
Raffael war es nicht gelungen, Zamorra im Château zu töten. Aber er hatte auch bemerkt, daß sein Feind mißtrauisch und vorsichtig geworden war. Er war auf der richtigen Spur, wußte, wer der Mann war, der sich hier unten verbarg.
Um ein Haar hätte Raffael ihn doch noch töten können. Aber da waren diese anderen Männer gewesen. Sie waren zu mehreren. Das war nicht im Sinne des Teufelsdieners.
Wenn er zuschlug, dann so, daß er selbst eine Chance hatte, zu entkommen.
Aber Zamorra würde zurückkehren und dann vorbereitet sein. Das Überraschungsmoment war vertan. Raffael kannte seinen Feind Zamorra lang genug, um zu wissen, daß dieser kein Risiko einging. Er kannte Raffaels Stärken und Schwächen und würde seine Mittel finden, Raffael zu übertölpeln.
Raffael mußte ihm zuvorkommen.
Als es dämmerig wurde, verließ er die Kellergewölbe.
Er brauchte keine Uhr hier unten in der Finsternis. Er brauchte auch kein Tageslicht zu sehen, um zu wissen, wie spät es geworden war. Er verließ sich vollkommen auf sein Gefühl.
Grau wurde der Himmel, als der Teufelsdiener ins Freie trat, vorsichtig nach allen Seiten sicherte, ob ihn niemand beobachtete. In seiner Hand hielt er die Pistole, mit der er vorhin nach dem Kampf im Keller schon einmal auf Zamorra gezielt hatte.
Aber da war die Gefahr zu groß gewesen, daß die anderen ihn suchten und so lange belauerten, bis er ins Freie kommen mußte. Dieses Risiko hatte er nicht eingehen wollen.
Jetzt würde ihn niemand hier unten suchen. Zamorra war so närrisch gewesen, nichts zu sagen. Raffael grinste wölfisch. Wie er Zamorra kannte, würde der sich nur seiner Gefährtin anvertrauen. Und Nicole Duval konnte man dann sofort mit töten. Dann waren zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen.
Kein Mensch war in der Nähe. Der abgerissen wirkende, schmutzige alte Mann mit dem grauweißen Haar, in dessen dürrem Körper eine schier unglaubliche Kraft wohnte, seit Leonardo deMontagne ihn zum Teufelsdiener gemacht hatte, bewegte sich abseits der Straße zwischen Büschen, Sträuchern und Weinstöcken hindurch talwärts, dem Dorf zu.
Er achtete darauf, Wege zu gehen, die sonst niemand ging. So konnte ihm auch niemand begegnen.
Die geladene Pistole steckte in der Tasche seiner fleckigen Jacke.
Er wußte, wo er Zamorra finden würde.
***
Nur zögernd berührte Ysabeau die Karte. Der Turm… auch hier der Planet Mars dominierend. Gewalttätigkeit, Zerstörung. Aber noch etwas anderes schwang mit. Etwas, das ihr nicht die Karte zeigte, sondern das Gefühl in ihrer Tiefe.
Turm…
Château…
War das Erscheinen dieser Karte für sie nicht eine Aufforderung, zum Château Montagne zu kommen? Wartete dort nicht etwas auf sie?
Der Turm konnte nicht grundlos gekommen sein. Das Symbol für den Zusammenbruch falscher Gedankengänge… konnte es nicht sein, daß sie, ihrem Drang hierher zu kommen, von falschen Voraussetzungen ausgegangen war? Daß nicht Zamorra ihr wirkliches Ziel war, sondern etwas, das sie im Château fand?
Oder jemand…
Jener, für den die Karte »Der Tod« stand… ?
Sie straffte sich. Ysabeau Derano erhob sich. Sie raffte die Karten zusammen, tat sie in die Schachtel zurück und verließ mit der Tasche, in der die Schachtel sich nun befand, das Zimmer.
Um das Gasthaus zu verlassen, brauchte sie den Schankraum nicht zu betreten. Es gab noch einen anderen Ausgang, der direkt ins Freie führte. Sekundenlang zögerte sie, dachte an Zamorra. Sollte sie sich ihm nicht doch offenbaren?
Aber da war der Turm.
Es ist noch früher Abend, dachte sie. Er wird sich nicht sofort zum Schlafen niederlegen, und ich kann rasch zurück sein, wenn ich hinauf fahre. Dann kann ich immer noch mit ihm sprechen, und dann weiß ich vielleicht mehr. Ich werde oben im oder am Château etwas Wichtiges erfahren…
Sie trat in die Abenddämmerung hinaus. Unter Bäumen versteckt stand ihr Renault 5, mit dem sie aus Paris gekommen war. Hier und da angerostet, ein wenig verbeult. Sie besaß ihn schon seit fast zehn Jahren, und da erlebte so ein Fahrzeug gerade im Pariser Stadtverkehr schon so einiges an Blessuren. Aber Motor und Bremsen funktionierten, und das war das Wichtigste.
Die blonde Zigeunerin stieg ein und ließ den Motor an. Bedächtig rangierte sie den R5 rückwärts auf die Straße und schlug dann den Weg zum Château Montagne ein.
Sie
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