0357 - Die Treppe der Qualen
Geheimnis, denn jeder, der den Dolch ansah, mußte von ihm fasziniert sein. Die Waffen hatten einmal Wischnu, einem der höchsten Götter Indiens, gehört, und sie waren aus den Armen sterbender Dämonen angefertigt worden. So konnten sie auch die Totengöttin Kali schwächen oder zurückschlagen, denn zu ihren Dienern hatten die sterbenden Dämonen gehört.
Da Garuda das Reittier des Gottes Wischnu gewesen war, mußte auch er von den Dolchen wissen. Vielleicht hatte er deshalb so darauf gedrungen, daß ich diese eine Waffe mitnahm.
Gefunden hatte diese Dolche Mandra Korab. Er war ein Reiner und gehörte zu der obersten Klasse. Ihm waren sie gewissermaßen zugeteilt worden, denn nur er konnte ihre Kraft ausnutzen.
Man konnte sie als normale Waffen bezeichnen, und dennoch waren sie anders.
Griff und Klinge unterschieden sich in der Farbe voneinander. Die Klingen bestanden zwar aus einem stahlähnlichen Material, dennoch sahen sie nicht so aus wie normale Waffen. Von ihnen ging kein helles Glänzen aus, vielmehr eine unheimliche Schwärze, die mit der des lichtlosen Alls zu vergleichen war.
Anders die Griffe.
Sie leuchteten in einem dunklen Rot, das in seinem tiefsten Innern eine gewisse Schlierenschicht angenommen hatte, die mich persönlich an geronnenes Blut erinnerte.
Ich dachte nicht mehr weiter über Herkunft und Funktion der Waffe nach, sondern war froh, daß sie sich in meinem Besitz befand.
Ich betrat das Dach, der Wind packte mich und wirbelte meine Haare durcheinander. Diesmal wartete Garuda. Seine Umrisse hoben sich deutlich von der Finsternis ab, und neben ihm lag auch die Planke mit Mandras Gesicht darin, die er zu bewachen hatte.
»Du hast den Dolch?« fragte er mich zur Begrüßung.
Statt einer akustischen Antwort holte ich die Waffe hervor und zeigte sie ihm.
Er nickte.
Ich betrat das Dach und ging dabei auf ihn zu, mit dem Dolch auf dem Handteller. Erst dicht vor dem Adler blieb ich stehen.
Der Wind kam von der rechten Seite. Er jagte in meine Kleidung, hob die Jackenschöße hoch und fuhr kalt gegen meine Haut. Das Gesicht des Adlers starrte auf die Klinge.
Wieder begann er zu sprechen. Während sich der Schnabel bewegte, waren die Worte sehr deutlich zu verstehen.
»Diesen Dolch wirst du hüten wie deinen Augapfel. Ebenso wie die Planke, die du mitnehmen mußt, damit Mandra Korab befreit werden kann.«
»Wohin soll ich sie nehmen?« Endlich kam ich dazu, nach dem Ziel der Reise zu fragen.
»Zur Treppe der Qualen.«
Tief holte ich Luft. Ich wußte, daß Dämonen und auch alte Völker gewisse Orte umschrieben hatten. So auch diese Treppe der Qualen.
Gehört hatte ich nie von ihr. Mir war nicht bekannt, wo sie lag und wer sie angelegt hatte.
Deshalb fragte ich: »Was ist sie genau?«
»Ein Weg in ein Land, das nicht mehr existiert. Durch den Mord an seiner Königin wurde es vernichtet. Nur die Treppe der Qualen blieb, sie ist wieder aufgetaucht, und mit ihr wirst du es zu tun bekommen, John Sinclair.«
»Was ist es für ein Land, das vernichtet wurde?« wollte ich wissen.
»Das Reich der Gesichtslosen, deren Königin Macha Rothaar hieß. Sie wurde von ihrem eigenen Sohn umgebracht.«
»Davon habe ich nie gehört.«
»Das glaube ich dir. Dafür wird dir der Kontinent Atlantis ein Begriff sein.«
»Und ob.«
Der Adler bewegte seinen großen Vogelkopf nickend. »Das Reich der Gesichtslosen gehörte zu Atlantis. Es war ein Teil davon, eine Wohnstatt der Geistwesen, die von Macha Rothaar beherrscht wurde. Noch vor dem Untergang starb es und ging ein in die Unendlichkeit.«
Ich war überrascht und gleichzeitig schockiert. »Was hast du mit diesem Reich zu tun?«
Der Adler erklärte mir auch dies. »Ich diente dem Gott Wischnu als Reittier. Wir jagten durch Dimensionen und Zeiten. So sahen wir auch das Land kurz vor seinem Untergang. Ich mußte dort landen, weil Wischnu sich die Treppe der Qualen anschauen wollte. Er hat sie magisch beeinflußt und sie für sich eingenommen. Als ein Reservoir der Seelen. All die, die die Treppe vor dem Untergang bildeten, haben ihn auch überlebt, und ihre Gesichter sind dort zu sehen. Doch sie leiden Qualen, es ist wie eine Hölle, denn die Magie des Fratzengesichts hat sich ebenfalls eingeschaltet und die Treppe in ihren Besitz gebracht. Sie wurde Wischnu entrissen. So dient sie noch heute als magische Falle für das Fratzengesicht.«
»Und dort finde ich Mandra?« hauchte ich.
»Nein, du findest ihn dort nicht. Aber es gibt auf der Treppe
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