0357 - Die Treppe der Qualen
das wichtigste überhaupt. Auf einem Felsvorsprung hatte ich meinen Platz gefunden. Ein lauer Abendwind strich über das dunkle Meer und spielte mit seinen Wellen, die gegen den winzigen Strand der Felseninsel getrieben wurden.
Als ich das Bild in der Planke betrachtete, mußte ich daran denken, wie Shao versucht hatte, es zu zerstören. Als sie unter dem Bann stand, hatte sie den Dolch genommen und auf die Planke eingehackt. Sie hatte dabei die Wangen des eingeschlossenen Mandra Korab getroffen undtiefe Kreuzschnitte hinterlassen. Die allerdings waren jetzt verschwunden. Man konnte sie vielleicht als geheilte Wunden bezeichnen, oder es kam daher, weil das Bild ein wenig blasser geworden war und ich deshalb die Narben nicht mehr sehen konnte.
Ich strich mein Haar zurück, erhob mich wieder und unterzog die Insel einer ersten Inspektion.
Viel war da wirklich nicht zu sehen.
Nicht einen Grashalm entdeckte ich. Nur braune Felsen, in dessen Spalten und Rinnen der Wind Sand geweht hatte. Er klebte dort wie eine Schicht. Der Boden war uneben. Manchmal mußte ich steigen, an anderen Stellen wieder eine Rinne nach unten rutschen, und die Treppe hatte ich auch nicht entdeckt.
Ich konnte mir zudem vorstellen, daß die Insel, wenn ein richtiger Orkan tobte, von den Wassermassen überschüttet wurde und auch die Treppe nicht verschonte.
Sie suchte ich.
Ich schlug einen Bogen, kletterte eine Rinne hinab, denn ich wollte an den schmalen Sandstrand gelangen. Als ich dort stehenblieb, sah ich auch die Treppe.
Ich schaute die Stufen hoch.
Sie war gewaltig, und damit hätte ich nicht gerechnet. Voll war sie in den Felsen integriert. Die Stufen zeigten eine übermäßige Breite, sie waren auch tiefer als normale, so daß Menschen bequem auf ihnen Platz fanden.
Etwas Unnormales entdeckte ich noch nicht, wobei ich mich fragte, wieso man vor dieser Treppe Furcht haben konnte.
Ich stieg sie hoch.
Es war ein mühsames Gehen. Jedesmal, wenn ich eine Stufe berührte, rechnete ich damit, daß etwas geschah, aber es passierte nichts, so daß ich die Treppe hinter mir lassen konnte und vor der obersten Stufe stehenblieb. Von diesem Punkt aus hatte ich einen sehr guten Blick über die Insel und das Meer.
Eine Qualentreppe, hatte mir Garuda gesagt. Stufen, die auch vom Fratzengesicht gezeichnet worden waren, doch von diesem Dämon spürte ich nichts.
Alles blieb normal.
Hatte sich Garuda geirrt? Wollte er mich vielleicht aus seinem Dunstkreis wissen?
Nein, dieser Menschenadler trieb kein falsches Spiel. Diese Treppe aus den Urzeiten barg ein Geheimnis, und ich war gewillt, es zu lösen.
Auf der letzten Stufe nahm ich vorsichtig Platz. Die Planke mit dem Gesicht des Inders darin legte ich auf meine Knie, breitete die Arme aus und tastete mit den gespreizten Händen über das Gestein in der Hoffnung, etwas fühlen zu können.
Das war nicht der Fall.
Ich hockte auf der Stufe einer völlig normalen Treppe, und mein Blick glitt in die schräge Tiefe, hinweg über Kanten und Stufen, bis zum Wasser.
Das Meer war ruhig. Eine lange Dünung schaukelte im leichten Abendwind. Die Sonne sah ich noch als roten Ball, der dicht über der Oberfläche stand, um bald hineinzutauchen.
Ein friedliches, ein herrliches Bild. Beinahe paradiesisch zu nennen, wenn ich da an das naßkalte London dachte.
Die Sonne war tiefer gesunken, und sie malte einen breiten, goldgelben bis blutroten Streifen auf die Wellen, dessen letzte Ausläufer sich am Strand der kleinen Insel verliefen.
Da die anderen Kräfte nichts unternahmen, sah ich mich gezwungen, selbst die Initiative zu ergreifen. Garuda hatte mir erklärt, daß auf der Treppe eine Stufe, der Teil einer Stufe oder eine Planke fehlte. In dieses Loch mußte Mandras Bild hineinpassen.
Leider hatte ich bei meinem ersten Inspektionsgang über die Insel nichts davon gesehen. Auch als ich die Stufen hinabschaute, sah ich keine Stelle, in die die Planke hineingepaßt hätte.
Magie geht oft genug rätselhafte Wege. Ich wollte einfach nicht glauben, daß man mich geleimt hatte, aus diesem Grunde versuchte ich es erst anders herum.
Ich nahm mir wieder die Planke vor und untersuchte sie genauer.
Nach wie vor konnte ich in Mandras Gesicht schauen.
Es hatte sich nicht verändert.
Wenn mein indischer Freund, auf welche Weise auch immer, Schreckliches erlebt hatte, sah ich es dem Gesicht wenigstens nicht an. Und ich erinnerte mich auch daran, daß Mandra, obwohl er in der Planke steckte, hatte reden
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