036 - Die Hand des Würgers
einen Verdacht hast du nicht? Ist dem nichts vorangegangen? Gar nichts?“
Renaud zögerte einen ganz kurzen Moment.
„Nein, nichts“, bestätigte er dann.
Ich habe mir vorgenommen, den Mund zu halten und wenigstens vorläufig nichts von dem zu sagen, was ich gehört habe. Renaud hat nämlich kein Wort von dem Besuch verlauten lassen, den er etwa eine oder auch zwei Stunden vor dem Angriff gehabt hatte.
Ich habe keine Ahnung, weshalb Renaud von diesem weiblichen; Besuch nichts sagt. Diese eine Tatsache könnte doch so wichtig sein!
Ich weiß ja darüber nichts, denn ich hatte ja nie etwas mit Mädchen und kenne mich da nicht so aus, aber in den Büchern, die Monsieur Feras mir zum Lesen gegeben hat, habe ich manchmal gelesen, daß galante Männer über ihre Abenteuer strengstes Stillschweigen bewahren.
Sicher hat auch Renaud einen ähnlichen Grund, über diesen nächtlichen Besuch zu schweigen. Vielleicht ist das sogar ganz vernünftig, denn ich sehe auch keinen Zusammenhang zwischen diesem Besuch und unserer entsetzlichen Geschichte.
Aber wer könnte Renaud gewürgt haben? Diese Frage stelle ich Monsieur Feras.
Er gibt mir ziemlich barsch Antwort darauf: „Ja, wenn ich das wüßte! Von dieser verdammten Hand will ich aber kein Wort mehr hören, verstanden! Es muß ja schließlich jemand gewesen sein. Das meinst du doch auch, Renaud?“
Aber nein, Renaud ist keineswegs überzeugt. Er sieht Monsieur Feras an und macht dazu eine vage Handbewegung.
„Es war doch so dunkel. Da konnte ich gar nichts sehen!“
Nun schaut Monsieur Feras mich an. Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe. Das weiß er auch, und es macht ihn gereizt. Er möchte, Renaud soll sich darauf festlegen, daß er nur ein Gesicht, wenigstens eine Silhouette, gesehen hat, also etwas ‚Normal’-Menschliches, falls man einen, der einen Menschen zu erwürgen versucht, überhaupt als ‚normal’-menschlich bezeichnen kann.
Renaud weigert sich. Er sagt, er habe nichts gesehen außer Faraud, der die einzige greifbare Wirklichkeit gewesen war, aber Faraud ist ja ein stummer Zeuge. Auf jeden Fall, erklärt Monsieur Feras, habe doch der Hund jemanden angegriffen und verjagt.
Oben trinken wir dann Kaffee. Nach dieser Nacht brauchen wir ihn dringend. Er ist stark und mit einem Schuß Kognak versetzt.
Den ganzen Tag über arbeite ich im Garten der Damen Vaison. Monsieur
Feras ist in sein Auto gestiegen und hat das Dorf verlassen. Wohin ist er gefahren? Er hat mir nichts gesagt. Ich glaube, die alte Madame Vaison hat etwas von Paris erwähnt.
Renaud ist auch seiner Arbeit nachgegangen. Ich habe einen kleinen Verband am Hals, und mein alter Freund hat mir versichert, nun sei alles vorüber, und ich brauche niemals mehr angekettet zu werden. Ich müsse doch endlich verstehen, daß dies gar nicht nötig sei.
Wäre ich nicht angekettet gewesen, dann hätte ich Renauds Angreifer anspringen und ihn verfolgen können. Dann wäre nicht nur dieser Überfall auf Renaud geklärt gewesen, sondern vielleicht auch der auf Corinne und möglicherweise sogar der Mord an Loulou.
Wenn ich nur gekonnt hätte.
Bei diesem Gedanken überläuft mich jedesmal eine Gänsehaut. Nein, ich bin viel lieber wie ein unvernünftiges Tier angekettet, und das ziehe ich jeder möglichen Entdeckung vor.
Diese Verbrecherhand. Die Hand, die Loulou getötet hat, die versuchte, Corinne und Renaud zu erwürgen.
Meine Hand.
Während ich so im Garten arbeite, lassen mich diese Gedanken nicht mehr Jos. Monsieur Feras hat mir versichert, daß ich absolut ungefährlich sei, und fast möchte ich damit beginnen, daran zu glauben.
Es tröstet mich aber nicht sehr, wenn ich an das schreckliche Wesen denke, das immer wieder versucht und versuchen wird, jemanden zu erwürgen.
Mit meiner linken Hand werde ich allmählich ganz geschickt. Trotzdem glaube ich noch immer die rechte Hand zu fühlen, die doch nicht mehr da ist.
Monsieur Feras hat am Morgen seine Nachbarinnen besucht, und ich wüßte sehr gerne, was gesprochen wurde. Hat er ihnen berichtet, was vorgefallen ist?
Jedenfalls war bisher mit keinem Wort von der Polizei die Rede. Monsieur Feras hat sich entschlossen, Detektiv zu spielen und den Unmenschen zu entlarven, diesen Vampir, der uns alle bedroht.
Alle?
Mich auch?
Diese Frage muß ich mir stellen. Ist es vielleicht meine eigene Hand, die mich töten will?
Und das ist ein Problem, das ich wahrscheinlich nie lösen kann. Loulou läßt sich irgendwie mit meiner Theorie
Weitere Kostenlose Bücher