0366 - Zigeunerliebe - Zigeunertod
Ziel.
Vor uns öffnete sich ein ziemlich großer Platz. An den Rändern wurde er von kahlen Bäumen gesäumt, deren Astwerk eine weiße dünne Schnee- oder Frostschicht zeigte.
Auch an den Stämmen hatte sich das Eis regelrecht festgefressen, und wir gingen quer über den Kirchplatz auf die Kirche zu. Sie war nicht sehr groß. Das Tor glänzte. Es bestand aus einem dicken, hell lackierten Eichenholz.
Als unser Blickwinkel besser wurde, sahen wir neben der Kirche ein kleines Haus. Selbst im Winter waren die Efeuranken nicht abgefallen, die an der Hauswand hochwuchsen.
»Da muß der Küster wohnen«, sagte Shao.
»Und auch der Pfarrer.« Ich hob den Kopf und hielt nach dem großen Schatten Ausschau.
Er war noch vorhanden, und er endete direkt an der Kirche, wo er mit seinem Kopfende über das Gebäude fiel.
Bewegungslos stand er. Nicht einmal seine Konturen zitterten. Ich trat einige Schritte nach links, so daß ich abermals in den Schatten hineingeriet.
Wieder reagierte mein Kreuz. Es zeigte einen grünen Schimmer, wie es nur bei einer Druidenmagie der Fall war. Hier mußte also etwas von dieser alten Kunst der Eichenkundigen vorhanden sein.
Shao drängte: »Willst du nicht in die Kirche hineingehen?«
»Im Prinzip schon. Nur würde mich mal interessieren, wie der Beginn des Schattens aussieht. Und wie er entstanden ist. Schatten und Licht wechseln sich ab. Schatten kann nur dort sein, wo es auch Licht gibt. Aber welches Licht zeichnete sich dafür verantwortlich? Das frage ich mich?« Noch während der Worte hatte ich mich auf der Stelle gedreht und suchte nach der hellen Quelle.
Sie war nicht zu sehen.
»Es könnte natürlich sein, daß nicht allein der Schatten eine immense Größe besitzt, sondern auch das Original«, meinte Shao und schaute mich stirnrunzelnd an.
»Mach keine Witze.«
»Ich wollte, es wäre einer.«
»Auf jeden Fall werden wir uns das Innere der Kirche anschauen. Vielleicht sehen wir dort den Spuk.« Ich hatte mich lange genug auf dem Vorplatz aufgehalten. Er war mit dünnem Kies bestreut worden. Wege gab es nicht. Wir erreichten die Tür, ich faßte nach der Klinke und drückte das eiskalte Metall nach unten. Die alte Kirchentür quietschte erbärmlich in den Angeln, als ich sie nach innen schob und als erster das Kirchenschiff betrat.
Jedesmal wenn ich in eine Kirche gehe, überkommt mich ein gewisses Gefühl der Ehrfurcht. Mir gefällt die Stille im Gotteshaus, deshalb störte es auch, als Shao die Tür schloß und sich das Quietschen der Angeln wiederholte.
Vor uns befanden sich die beiden Bankreihen. Dazwischen sah ich den breiten Mittelgang, der bis hin zum Altar führte. Ich entdeckte keinen Prunk, auch der Altar war mehr ein schlichter Gabentisch.
Das schmückende Beiwerk der oft prachtvollen katholischen Kirche fehlte völlig.
Wo war der Schatten?
Ich blickte wieder in die Höhe, auch auf die Fenster in den Seitenteilen, sah aber nichts. Das Mauerwerk schien ihn verschluckt zu haben.
Shao und ich blieben dort stehen, wo die hinterste Bankreihe begann. Ich überlegte laut: »Wenn kaum jemand dieses seltsame Gespenst bisher gesehen hat, weshalb sollen gerade wir das Glück haben?«
Ungefähr eine Minute verging, in der weder Shao noch ich ein Wort sprachen. Die Chinesin unterbrach das Schweigen. Als sie die Worte flüsterte, sah ich die Atemfahne vor ihrem Mund, so kalt war es auch innerhalb der Kirchenmauern. »Ich müßte mal versuchen, mit Suko Kontakt aufzunehmen.«
»Wie denn?«
»Ich könnte ihn rufen.«
»Gedanklich oder…«
»John, das weiß ich ja eben nicht.« Ihre Stimme klang gequält.
»Jetzt sind wir hier in Pluckley, sogar in einer Kirche, und bisher haben sichdie beiden nicht gezeigt. Weshalb lenkten sie uns auf diese Spur, John? Da muß es einen Grund geben.«
»Sei mal still!« zischte ich.
Shao hielt sofort den Mund. Sie lauschte ebenso wie ich, aber ich hatte es früher vernommen.
Es war ein Geräusch, das man als gänsehauterzeugend bezeichnen konnte. Ein hohes Wimmern und Klagen, in schrillen, jedoch leidenden Tönen ausgestoßen. Woher es kam, konnte niemand von uns feststellen. Es war einfach da und drang von allen Seiten an unsere Ohren.
Shao schaute mich an. »Das Wimmern kann einem Angst machen.«
»Nein, junge Frau, Sie brauchen keine Angst zu haben. Es ist schon okay.« Nach diesen Worten hörten wir ein leises Lachen und gleichzeitig schlurfende Schritte.
Wir drehten uns um!
Er kam aus dem Dunkel einer Nische und wirkte
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