0371 - Karawane der Dschinns
koptischen Klöstern gelesen zu haben. Sie waren damals bekannt und berühmt gewesen für ihre Strenge und Askese. Ihr Glaubensfundament hatten sie in den Niederschriften des Apostels Marcus gefunden. In den ersten Jahrhunderten nach der Zeitrechnung hatten die Kopten eine sehr große Gemeinde gebildet, die auch zusammenhielt.
Wir waren allein. Unsere vier Begleiter mußten draußen geblieben sein. Das fiel mir erst jetzt auf.
»Wo wollen Sie hin?« fragte ich Al-Acham.
»Nicht in den Kirchenraum, wir werden in die Gruft steigen.«
Ich runzelte die Stirn. »Und was soll ich da?«
»Jemand kennenlernen.«
»Darf ich fragen, wen?«
»Ich würde Ihnen jetzt keine Antwort geben, Mr. Sinclair. Lassen Sie sich überraschen.«
»Das tue ich schon die ganze Zeit über«, erwiderte ich und wollte dem anderen folgen, als meine Aufmerksamkeit auf ein Bild gelenkt wurde, das in der Nische stand, vor der ich mich aufhielt. Zuerst dachte ich an eine Täuschung, bis ich genauer hinschaute und auch erkannte, daß sich das im Holz abzeichnende Gesicht tatsächlich bewegte.
Es war ein Heiligenbild. Der helle Heiligenschein lag wie ein Kreis um den schmalen Kopf.
Er interessierte mich nicht, vielmehr waren es die groß gemalten Augen, die mich in ihren Bann zogen.
Sie weinten blutige Tränen…
***
Durch einen Zischlaut machte ich den schon vorgehenden Al-Acham darauf aufmerksam. Er drehte sich um, sah mein Winken und war mit wenigen Schritten bei mir.
»Was ist denn?«
»Schauen Sie sich das Bild an.«
Al-Acham ging noch etwas vor. Er senkte den Kopf und blickte genauer hin. »Ja!« hauchte er. »Ja, das ist es. Das ist es haargenau. Sie sind bereits unterwegs und versuchen, unseren Abwehrschirm zu zerstören. Es ist wirklich höchste Zeit gewesen, etwas dagegen zu unternehmen, Mr. Sinclair.«
»Weshalb weint er diese Tränen?«
»Er spürte das Grauen.«
»Welches?«
»Jedes Bild besitzt seine Geschichte«, erklärte mir Al-Acham flüsternd und richtete sich dabei auf. »Und jedes hat seine besondere Bedeutung. Sie alle stehen hier zum Schutz, aber das will ich Ihnen nicht alles sagen. Wichtig ist, daß Sie mit mir in die Gruft kommen. Dort erleben Sie es hautnah.«
Ich hob die Schultern. Nur ungern wandte ich mich ab. Die Tränen aus Blut quollen noch immer aus den Augen, rannen an den dünnen Wangen entlang, verließen das Bild und zerrannen auf dem hellen Gestein der Nischenbank, wo sie rote Streifen hinterließen.
Nicht ein Geräusch entstand dabei, nur als die ersten Tropfen von der Nische aus nach unten fielen, vernahm ich ein leises Klatschen.
Ich ging langsamer weiter, schaute mir in den folgenden Nischen jedes Bild an, weil ich sehen wollte, ob auch dort blutige Tränen geweint wurden.
Das war nicht der Fall.
Schließlich erreichte ich Al-Acham, der vor einer schmalen Holztür stehengeblieben war.
»Ist das hier der Zugang zur Gruft?« fragte ich ihn.
»Ja.« Er hatte die Tür schon aufgedrückt. Ich schaute über seine Schulter hinweg, und mein Blick fiel auf eine geschwungene helle Treppe aus Kalksandstein, die in einem nach links schwingenden Bogen in die Tiefe eines Kellers führte.
Selbst hier nahm ich noch den Weihrauchgeruch wahr!
Al-Acham ging vor. Dabei bemühte er sich, die Schritte zu dämpfen. Er wollte wohl die Ruhe in der Gruft nicht stören. Auch ich dämpfte das Geräusch meiner Schritte.
Es war kein elektrisches Licht eingeschaltet worden. Um die Stufen erkennen zu können reichte der Schein der in eisernen Haltern steckenden Kerzen völlig aus.
Sie befanden sich über uns an der rechten Wand. Jedesmal, wenn sie von einem Luftzug gestreift wurden, bewegten sich ihre Flammen und schufen ein zuckendes Muster.
Die Treppe endete direkt in der Gruft. Ein großes unterirdisches Gewölbe mit die Decke stützenden Säulen, flackerndem Kerzenschein und auch zahlreichen Nischen im Hintergrund.
Ich war vor der letzten Stufe stehengeblieben, denn ich wollte die Atmosphäre dieser Gruft in mich aufnehmen. Manchmal besitze ich so etwas wie einen sechsten Sinn für Gefahr.
Hier deutete sich nichts an…
Mich überkam so etwas wie ein ehrfürchtiges Gefühl. Ich hatte den Wunsch, einfach den Mund zu halten, kein Wort zu reden, um die Stille nicht zu stören.
Sie war einfach da. Irgendwie kam es mir vor, als würde sie etwas erzählen.
Von einer langen, schweren Vergangenheit, von einer Last der Unterdrückung und des Kampfes, den die Kopten wegen ihres Glaubens jahrhundertelang getragen
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