038 - Der Geistervogel
schon viel zu viele Gedanken über alles mögliche machst. Ich wollte dich nicht damit auch noch belasten. Und außerdem hatte ich Angst, daß du mir nicht glauben würdest. Du glaubst mir doch?“
„Ich glaube es dir“, sagte er. „Du verläßt das Haus nicht, Silke. Ingrun bekam auch diese Warnung und befolgte sie nicht. Ich will nicht, daß dir auch etwas passiert. Du bleibst hier. Und ich fahre erst morgen mit Mutter nach Husum.“
„Das ist nicht notwendig, Vater“, sagte Silke. „Ich kann allein bleiben. Du kannst ruhig fahren.“
Es hatte einige Zeit gedauert, bis Silke ihren Vater doch zur Fahrt nach Husum überredet hatte.
Sie stand am Fenster und sah ihren Eltern nach. Ihr Vater war in den letzten Tagen zusehends gealtert. Er ließ die Schultern hängen und ging wie ein uralter Mann. Ihre Mutter nahm kaum mehr die Umwelt wahr.
Silke blieb am Fenster stehen und grüßte einige der Vorbeikommenden. Es versprach ein wunderschöner Frühlingstag zu werden. Der Himmel war strahlend blau und die Luft warm.
Ich muß den Brockenhausens Bescheid geben, daß ich heute nicht komme, überlegte Silke.
Haike Petersen ging vorbei und winkte ihr grüßend zu.
„Hallo, Haike“, rief Silke. „Hast du einen Augenblick Zeit?“
„Ja, was ist los?“ fragte Haike und kam näher.
„Komm rein“, sagte Silke und öffnete die Haustür.
Haike trat ein. Sie war ein außergewöhnlich hübsches Mädchen. Das weißblonde Haar trug sie zu einem Schweif zusammengebunden. Sie hatte das Gesicht eines Engels mit großen dunkelblauen Augen, die immer freundlich blickten. Die Nase war winzig, die Lippen klein und rot wie Kirschen. Sie hatte das Gesicht eines Mädchens und den Körper einer vollerblühten Frau. Eine rot-weiß karierte Bluse spannte sich um volle Brüste, die abgewetzten Jeans betonten ihre langen, schlanken Beine und das aufreizende Hinterteil.
„Du siehst fürchterlich aus“, stellte Haike fest. „Bist du krank, Silke? Du solltest zum Arzt gehen! Du hast doch fast zwanzig Pfund abgenommen und bist bleich wie ein Bettlaken.“
„Mir ist auch nicht gut“, sagte Silke und lächelte gequält. „Ich habe eine Bitte an dich. Könntest du zu Frau Brockenhausen gehen und ihr sagen, daß ich heute nicht kommen kann?“ „Das tu ich gern“, meinte Haike freundlich.
„Und du legst dich ins Bett. Soll ich dir etwas holen? Eine Zeitung vielleicht? Oder soll ich dir Tee kochen?“
„Das ist lieb von dir, Haike, aber ich brauche nichts. Ich lege mich nieder.“ „Sind deine Eltern nicht zu Hause?“ „Sie sind nach Husum gefahren. Sie wollen zum Arzt gehen.“
„Und weshalb nahmen sie dich nicht mit, Silke?“ Das Mädchen schwieg.
„Was ist mit dir los, Silke?” fragte Haike und legte einen Arm um die Schultern des Mädchens.
Silke hatte nicht sprechen wollen, doch plötzlich sprudelte es aus ihr heraus. Jetzt hatte sie das Bedürfnis, Haike alles zu erzählen. Sie ging in ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett. Haike nahm ihr gegenüber Platz und hörte schweigend zu.
Silke erzählte alles: die seltsamen Alpträume, die sie jede Nacht verfolgten, die Erscheinungen und geheimnisvollen Schatten, die zu Leben erwachten und schließlich berichtete sie auch von der Warnung der schwarzgekleideten Frau.
Haike wußte nicht, was sie von Silkes Erzählung halten sollte. Sie war nicht abergläubisch. Aber andererseits hatte Ingrun auch von der schwarzgekleideten Frau gesprochen …
„Bildest du dir das nicht alles nur ein, Silke?“
„Nein“, sagte sie fest. „Ich bilde mir das nicht ein.“
„Das hört sich alles so seltsam an, Silke“, sagte Haike leise.
„Die Alpträume, die Erscheinungen. Ich glaube, du stehst noch immer unter dem Schock des Todes deiner Schwester.
Du mußt dich davon lösen. Du mußt zu einem Arzt gehen.“
„Du willst damit sagen, daß ich verrückt bin, was?“ Haike schüttelte den Kopf. „Nein, das will ich damit nicht sagen, Silke. Du bist nicht verrückt, aber wahrscheinlich entstehen diese Alpträume, weil du dich noch immer zu sehr mit Ingruns Tod beschäftigst.“
„Ich kann sie aber nicht vergessen“, sagte Silke. „Ich muß immer wieder an sie denken. Hier, sieh dich nur in diesem Zimmer um. Da erinnert mich so viel an Ingrun.“
„Da haben wir es ja“, sagte Haike. „Du mußt endlich darangehen alles zu entfernen, was dich an Ingrun erinnert. Alles.“
„Das kann ich nicht“, stöhnte Silke. „Ich will es auch nicht.“
„Dann werden die
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