038 - Der Geistervogel
gab es kein Halten mehr für Silke.
Halb verrückt vor Angst riß sie die Küchentür auf, rannte die Diele entlang und stieß die Haustür auf. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, sie wollte nur fort.
Sie rannte zwischen den Häusern hindurch, bis sie das Meer erreicht hatte.
Vergessen war die Warnung der schwarzgekleideten Frau.
Sie versank bei jedem Schritt im Sand, kam öfters ins Stolpern, konnte aber immer das Gleichgewicht bewahren.
Nach einigen Minuten blieb sie stehen und rang nach Luft.
Sie zitterte am ganzen Leib. Angstvoll starrte sie zum Haus zurück.
Nichts in der Welt konnte sie zum Zurückgehen veranlassen. Sie blickte ihren Handrücken an, sie hatte nicht geträumt: die tiefe Wunde war deutlich zu sehen, die das Teigrädchen verursacht hatte.
Langsam beruhigte sie sich.
Das Haus mußte verflucht sein, anders konnte sie sich die rätselhaften Vorgänge nicht erklären. Jetzt fiel ihr die Warnung ein. Sie durfte das Haus nicht verlassen, doch sie hatte es getan.
Silke wußte nicht, was sie tun sollte.
Einerseits spielte das Haus verrückt, andererseits war da die Warnung.
Sie blickte sich um. Unwillkürlich war sie in Richtung Leuchtturm gelaufen, der kaum dreihundert Meter entfernt war. Kein Mensch war zu sehen.
Silke entschloß sich, beim Leuchtturmwärter Schutz zu suchen. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Immer wieder blickte sie sich scheu um, doch alles blieb ruhig.
Schließlich ging sie rascher. Sie erreichte das eingezäunte Kräutergärtchen Frau Brokkenhausens, ging daran vorbei und stieg die wenigen Stufen hoch, die zum Leuchtturm führten.
Die Tür stand offen. Nach der Hitze im Freien kam es ihr kühl wie in einem Keller vor.
„Frau Brockenhausen“, sagte Silke, doch sie bekam keine Antwort. Es war ruhig, unnatürlich ruhig. Zögernd öffnete sie die Tür zur Küche, dann klopfte sie an Frau Brockenhausens Zimmer an, doch auch hier rührte sich nichts.
Wieder war die Angst da. Der Leuchtturm war leer, doch Herr Brokkenhausen mußte hier sein. Wahrscheinlich war er in seinem Zimmer.
Vorsichtig stieg sie die Stufen hoch. Endlich hatte sie Brockenhausens Arbeitszimmer erreicht. Rasch klopfte sie an. Es blieb still.
„Herr Brockenhausen!” rief sie. Sie rüttelte an der Türklinke und schlug mit den Fäusten gegen die Tür. „Herr Brockenhausen, ich bin es, Silke!”
Keine Antwort. Sie überlegte kurz, dann stieg sie weiter hoch. Nachdem sie etwa zehn Stufen gestiegen war, blieb sie stehen. Eine Zwergseeschwalbe lag auf dem Rücken, die Beine weit von sich gestreckt. Der Vogel mußte schon längere Zeit tot sein.
Silke hatte immer schon Angst vor toten Tieren gehabt, sie getraute sich nicht weiterzugehen.
Endlich überwand sie ihre Angst und ging weiter, aber nach fünf Stufen blieb sie wieder stehen.
Viele andere Vögel lagen tot auf den Stufen. Sie erkannte darunter einige große Silbermöwen und auch zwei Austernfischer. Alle toten Vögel lagen auf dem Rücken.
Von einer Sekunde zur anderen änderte sich das Bild. Die toten Tiere bewegten sich, sprangen auf und flogen auf Silke zu, die vor Entsetzen wie gelähmt war. Eine Möwe flog auf ihren Kopf und hackte mit dem Schnabel auf ihre Stirn.
Laut schreiend drehte sich Silke um und stürzte die Stufen hinunter. Die Vögel folgten ihr. Sie ruderte mit beiden Armen umher und versuchte den Angriff abzuwehren. Sie erwischte eine Schwalbe und zerdrückte sie, dabei rannte sie weiter.
Sie stolperte, schlug mit dem Ellbogen gegen die Wand, riß sich das Gesicht blutig und stürzte kopfüber die Treppe hinunter.
Das Fährschiff landete um 16.35 Uhr. Jan Hansen hatte die kurze Fahrt von Husum zur kleinen Insel genossen. Er war mittags von Hamburg mit seinem alten klapprigen VW losgefahren, hatte einen Freund in Heide abgesetzt und war rasch weitergefahren, damit er die Fähre rechtzeitig erreichte.
Er fühlte sich müde, als er das Schiff verließ. Das Studium strengte ihn mehr an, als er erwartet hatte. Da er von seinen Eltern keine Unterstützung bekam, war er darauf angewiesen, sich sein Geld selbst zu verdienen. Er arbeitete dreimal die Woche als Aushilfskellner in einer üblen Kneipe auf der Reeperbahn. Dieser Job gefiel ihm gar nicht, aber er brachte ihm das Geld, das er zum Leben benötigte.
Bevor er sich in Haike verliebt hatte, war alles leichter gewesen, da hatte er nur zum Wochenende gearbeitet, aber das kam jetzt für ihn nicht in Frage, da er zum Wochenende zu Hause sein wollte.
Er
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