038 - Der Geistervogel
schön, die See war warm, und die Leute waren glücklich.
Ein kleines Paradies in einer feindlichen Welt.
Aber am 6. August wurde die schützende Hand fortgezogen.
An diesem Tag kam Jan Hansen mit dem Fährschiff zur Insel. Er hatte den Juli über hart gearbeitet, um sein Budget fürs nächste Jahr einzubringen.
Zwei Stunden nach seiner Ankunft begann es zu regnen.
Die Touristen saßen mißmutig in ihren Zimmern oder im Wirtshaus und starrten hinaus in den Regen. So hübsch die Insel bei Sonnenschein war, so bedrückend wirkte sie bei Regen. Was das Ganze aber besonders ärgerlich machte, war die Tatsache, daß die Wetterfrösche lang anhaltendes Schönwetter vorausgesagt hatten. Na ja, die Wettervoraussagen waren ein Kapitel für sich, einem Roulette vergleichbar, wo die Kugel, nur selten auf die Zahl fiel, auf die man gesetzt hatte.
Man sprach übers Wetter, über die Politiker, über die galoppierende Geldentwertung, über Arbeitslosigkeit und alles mögliche andere. Einige spielten Karten, wenige entdeckten, daß es auch Bücher gibt, Schachbretter wurden hervorgeholt.
Als es drei Tage später noch immer regnete, reiste ein Großteil der Gäste ab.
Es war kalt geworden, nichts erinnerte mehr an den Sommer, obwohl es erst August war. Es war wie im November, der Himmel grau gelb, die See eine trübe Brühe, und der Regen fiel mit unverminderter Wucht.
Ein unfreundlicher Morgen dämmerte über der Insel hoch.
Der Strand war mit toten Seevögeln bedeckt. Es mußten Tausende sein. Die Flut hatte sie ans Land gespült und zu hohen Bergen aufgeschüttet. Da lagen sie, die Flügel von sich gestreckt, das Gefieder klitschnaß. Schwalben, Möwen und Austernfischer.
Ein heimkehrender Fischer erzählte, daß er des Nachts einen riesigen weißen Vogel gesehen hatte, der Tausende anderer Vögel vor sich her auf die kleine Halliginsel getrieben hatte.
Ein böses Omen, raunten die Inselbewohner einander zu.
Immer mehr Touristen flüchteten vor dem schlechten Wetter.
Nur einige wenige blieben, meist ältere Leute.
Dann setzten die Alpträume ein. die meisten Inselbewohner bekamen sie, und seltsamerweise waren sie alle gleich.
Immer spielte ein riesenhafter Vogel die Hauptrolle. Er war weiß, das Gefieder durchscheinend wie schwacher Nebel.
Der Kopf war nie zu erkennen. Der Geistervogel schwebte hoch am Himmel, dann ließ er sich fallen, die Krallen griffen nach den Schlafenden, der Schnabel erschien aus dem Nichts und schlug zu.
Haike Petersen fühlte sich wie gerädert. Es war nun schon die dritte Nacht, in der der Alptraum mit dem Geistervogel sie verfolgt hatte.
Mißmutig half sie ihrer Mutter in der Küche, die das Frühstück für die wenigen verbliebenen Pensionsgäste bereitete.
„Wieder die Alpträume?“ fragte ihre Mutter, als sie ihre Tochter genauer betrachtet hatte.
„Ja“, sagte Haike. „Diese Träume sind scheußlich. Ich wache gut ein dutzendmal jede Nacht auf und kann dann nur sehr schwer wieder einschlafen. Und kaum schlafe ich, kommt gleich dieser Alptraum.“
„Vater hat ihn diese Nacht auch gehabt. Es ist so seltsam, daß so viele Menschen denselben Traum haben. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen.“
„Ich sprach mit Jan gestern darüber“, sagte Haike. „Er will es natürlich psychologisch erklären. Massenhysterie ist seine wenig schmeichelhafte Bezeichnung dafür.“ Ihre Mutter lächelte. „Vielleicht hat er damit gar nicht so unrecht. Irgend jemand hat von diesem Traum einmal erzählt, und schon träumen alle davon.“
„Diese Erklärung gefällt mir nicht sonderlich“, sagte Haike.
„Egal, was dahinterstecken mag, die Tatsache bleibt bestehen, daß mich und viele andere Leute diese Alpträume verfolgen.“
Sie nahm die ersten beiden fertigen Frühstücksteller und brachte sie in die Gaststube. An einem der Tische saß ein Ehepaar aus Hannover, einige Tische entfernt zwei ältere Frauen aus Köln, denen sie das Frühstück servierte.
Als sie dem Ehepaar das Frühstück servierte, blickte der Mann auf, seine Augen waren glasig.
„Sagen Sie Ihrer Mutter, sie soll uns die Rechnung fertigmachen“, sagte er.
„Sie wollen doch nicht schon abreisen?“ fragte Haike. „Das Wetter wird heute sicherlich …“
Der Mann winkte ab. „Darauf kommt es nicht an“, fuhr er fort. „Ich tue keine Nacht ein Auge zu. Immer habe ich denselben verfluchten Alptraum.“
„Das redest du dir nur ein, Wolfi“, sagte seine Frau.
„Ich rede mir gar nichts
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