038 - Die Wasserleiche im Rio Negro
kam die Gestalt an mir vorbei. Für einen Augenblick riß die dunkle Wolkendecke auf, und ich konnte die Gestalt deutlich sehen. Der Mann war bis auf eine weite Hose nackt. Sein breiter Oberkörper war blutverschmiert. Der Schein des Mondes fiel auf sein Gesicht. Es war nicht mehr menschlich. Die Ohren liefen spitz zu, und die Augen waren groß wie Dukatenstücke und schimmerten dunkelrot. Die Nase war flach wie die eines Affen und der Mund zu einem geifernden Maul geworden. Die Lippen waren weit zurückgezogen und entblößten scharfe, blutverschmierte Reißzähne.
Das unheimliche Geschöpf stapfte weiter, ohne mich zu bemerken. Sekunden später war es auf der steil abfallenden Treppe zum Hauptdeck verschwunden.
Ich stand rasch auf und warf noch einen Blick auf das Halbdeck. Einige Tote lagen auf den Planken. Antonio de Aguilar war von drei der schaurigen, unmenschlichen Scheusale umringt. Er war eben dabei, die Leiche des Kapitäns zu zerstückeln.
Ich hatte genug gesehen. Mit klopfendem Herzen ging ich zum Quarterdeck und blieb lauschend stehen. Der Wind war noch stärker geworden und riß an den Segeln, die schon längst eingeholt gehört hätten. Ich sah mich um, bemerkte aber nichts Verdächtiges. Nach wenigen Sekunden hatte ich das Hauptdeck erreicht und betrat die Mannschaftsräume. Nach der frischen Luft kam es mir in dem engen Raum wie in einem Backofen vor. Ich setzte mich zu Hernand Vivelda, der den Kopf hob und mich musterte.
»Hör mir zu«, flüsterte ich leise. »Ich habe gesehen, wie Aguilar den Kapitän ermordete. Er hat vier furchtbare Scheusale bei sich.«
»Du phantasierst«, sagte er abweisend.
»Du mußt mir glauben«, sagte ich heftig. »Aguilar ist ein Dämon. Ich sah, wie er dem Kapitän das Blut aussaugte.«
»Unsinn!«
»Ich sage die Wahrheit, Hernand. Wir müssen uns verstecken. Er wird sicherlich einige von uns töten. Er braucht Blut. Er dürfte ein vampirartiges Geschöpf sein.«
»Das hört sich ziemlich phantastisch an.«
Bevor ich noch etwas erwidern konnte, betrat Antonio de Aguilar den Mannschaftsraum und blieb breitbeinig stehen. Er war ein hochgewachsener hagerer Mann. Sein bleiches Gesicht war schmal, die dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Sein dunkelbrauner Spitzbart war sorgfaltig gestutzt.
»Fünf Männer zu mir«, sagte Aguilar.
Niemand rührte sich.
»Wird's bald!« schrie er und zeigte auf drei Männer, dann auf Hernand und schließlich auf mich. »Ihr kommt mit!«
Hernand und ich wechselten einen Blick. Unwillkürlich griff ich nach meinem Dolch, der einzigen Waffe, die ich besaß.
Die anderen drei standen fluchend auf und folgten Aguilar. Hernand und ich schlossen uns ihnen an. Wir hielten uns aber einige Schritte zurück.
»Sei vorsichtig, Hernand«, sagte ich leise. »Ich weiß, wo wir uns verstecken können. Neben der Kombüse befindet sich das Lebensmittellager. Daran schließt ein Raum, in dem Waffen und allerlei anderes Zeug gelagert sind.«
Hernand gab mir keine Antwort.
Aguilar stieg zum Halbdeck hoch. Wir blieben zurück. Einer der Männer hatte das Halbdeck erreicht, da stürzte sich eines der Scheusale auf ihn, packte ihn an den Schultern und riß ihn hoch. Ich sah, wie die raubtierartigen Zähne zubissen und die Kehle des Unglücklichen zerfetzten.
»Glaubst du mir jetzt?« fragte ich Hernand.
»Ja«, sagte er heiser.
»Wir haben keine Sekunde zu verlieren.« Ich wandte mich zur Flucht.
Ein Kampf gegen Aguilar und seine vier Helfer war sinnlos.
Eines der Scheusale verfolgte uns. Es stieß einen heiseren Schrei aus und fuchtelte wild mit den Armen herum. Ich erreichte die Tür zur Kombüse und riß sie auf. Das unheimliche Geschöpf hatte Hernand erreicht und schlug seine Pranken in seine Hüften. Hernand stieß einen entsetzlichen Schrei aus.
Blitzschnell riß ich meinen Dolch aus der Scheide und sprang auf das Monster zu. Die glutroten Augen blitzten mich böse an. Die rechte Pranke des Monsters drückte Hernands Kehle zu, der verzweifelt um sich schlug.
Mit drei Sprüngen stand ich neben dem Scheusal. Meine rechte Hand zuckte vorwärts, und der Dolch bohrte sich in die Niere des Monsters. Das Monster ließ Hernand frei, der in die Knie ging. Ich hatte keine Zeit, mich um ihn zu kümmern. Das Scheusal holte zu einem Schlag aus, und die Pranke traf meine Brust. Ich fiel zu Boden und prallte mit dem Kopf gegen die Bordwand. Für einen Augenblick war ich halb ohnmächtig. Der Dolch entfiel meiner steifen Hand und kullerte über
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