038 - Verbotene Sehnsucht
haben."
Ein Muskel zuckte kurz in Vales Wange. „Im Krieg habe ich genug geschossen."
Sam nickte. Das konnte er gut verstehen. Ob nun adeliger Offizier oder einfacher Soldat, im Krieg hatte jeder Erfahrungen gemacht, die man nicht unbedingt wiederholen musste.
Vale schaute ihn an. „Wahrscheinlich halten Sie mich für einen Feigling."
„Weit gefehlt."
„Sehr gütig von Ihnen." Des anderen Pferd scheute vor einem herabfallenden Blatt, und er musste sich kurz den Zügeln widmen. Dann meinte er: „Ist das nicht seltsam?
Es macht mir überhaupt nichts aus, Gewehrfeuer zu hören oder Pulverdampf zu riechen. Nur eine Waffe will ich nie mehr in der Hand halten. Das bringt alles zurück, und auf einmal ist der Krieg wieder Wirklichkeit. Zu wirklich, für meinen Geschmack."
Sam erwiderte nichts. Was hätte man darauf auch erwidern sollen? Bisweilen erschien ihm der Krieg ebenfalls zu gegenwärtig. Vielleicht war es ja wirklich so, dass der Krieg für die heimgekehrten Soldaten weiterging - für die Verwundeten ebenso wie für die scheinbar Unversehrten.
Mittlerweile waren sie auf die Straße eingebogen, die auf der einen Seite von einer dichten Hecke, auf der anderen von einer Bruchsteinmauer gesäumt wurde.
Dahinter erstreckten sich braune und goldgelbe Felder, so weit das Auge reichte.
Auf einer Wiese wurde Heu eingeholt. Die Frauen hatten ihre Röcke bis zu den Knien gerafft, die Männer die Ärmel ihrer Kittel aufgekrempelt.
„Wussten Sie, dass Hasselthorpe auch im Krieg war?", fragte Vale unvermittelt.
„Wirklich?", fragte Sam überrascht. Hasselthorpe hatte wenig Militärisches an sich.
„Doch, er war Adjutant irgendeines Generals", sagte Vale. „Für welchen, daran kann ich mich nicht mehr erinnern."
„War er in Quebec dabei?"
„Nein. Wahrscheinlich hat er überhaupt keine Kampfhandlungen miterlebt. Ich glaube auch nicht, dass er lange in der Armee war - nur bis er geerbt hatte."
Sam nickte. Viele Aristokraten strebten sichere, gefahrlose Positionen in der Armee Seiner Majestät an, um versorgt zu sein. Ob sie für das militärische Leben geeignet waren, spielte dabei eine eher untergeordnete Rolle.
Danach verstummte ihre Unterhaltung wieder, und sie ritten schweigend weiter, bis sie wenige Minuten später Dryer's Green erreichten, einen hübschen kleinen Marktflecken, in dem zu dieser Stunde geschäftiges Treiben herrschte. Sie ritten an der Schmiede und am Laden eines Schuhmachers vorbei, als sie vor sich einen Gasthof sahen.
„Da vorn geht es zur Honey Lane." Vale zeigte auf eine schmale Gasse, die hinter dem Gasthof von der Hauptstraße abging.
Sam nickte und lenkte sein Pferd in besagte Gasse, in der nur ein einziges Haus stand - ein bescheidenes kleines Cottage mit einem von Wind und Wetter geschwärzten Strohdach, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sam schaute Vale an und hob fragend die Brauen. DerViscount zuckte nur mit den Schultern. Beide Männer stiegen von ihren Pferden und banden sie an den Ästen eines Apfelbaums fest, die über die Mauer ragten, welche das Cottage von der Straße trennte. Vale öffnete das Gartentor, und sie gingen den kurzen, aus Ziegelsteinen gesetzten Weg hinauf zum Haus. Es mochte hier mal sehr schön gewesen sein. Zu erkennen waren noch die Reste eines Gartens, der nun völlig verwahrlost war, und das Haus selbst war zwar klein, wirkte aber gemütlich und gut geschnitten. Wie es aussah, war Craddock in Not geraten. Oder er besaß nicht mehr die Kraft, sich um das Haus zu kümmern.
Mit diesem keineswegs erfreulichen Gedanken im Hinterkopf klopfte Sam an die Tür, die so niedrig war, dass er den Kopf würde einziehen müssen.
Niemand kam. Sam wartete einen Moment, dann klopfte er noch einmal etwas nachdrücklicher.
„Vielleicht ist er nicht da", meinte Vale.
„Haben Sie herausgefunden, wo er arbeitet?", frage Sam.
„Nein, ich ..."
Doch er wurde unterbrochen, als die Tür sich knarrend einen Spaltbreit öffnete. Eine Frau in mittleren Jahren spähte heraus. Bis auf die weiße Rüschenhaube war sie ganz in Schwarz gekleidet. Um die Schultern trug sie einen Schal, der über der Brust gekreuzt und an der Taille gebunden war. „Ja?"
„Entschuldigen Sie die Störung, Ma'am", sagte Sam. „Aber wir suchen Mr. Craddock.
Uns wurde gesagt, dass er hier leben würde."
Die Frau schnappte kurz nach Luft, und Sam ahnte Schlimmes.
„Er hat hier gelebt", sagte sie. „Aber jetzt nicht mehr. Er ist tot. Er hat sich vor einem Monat
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