0388 - Der Tote mit meinem Gesicht
Ohr.
Ich blieb stehen, war dem Zusammenbruch nahe. Meine Knie zitterten.
Weit vor mir sah ich einen schwachen Lichtschein. Ich lief darauf zu und erreichte ein großes Holzhaus, das von einem hohen Zaun umgeben war. Hinter den Maschen sprang eine riesige Dogge aufgeregt herum und bellte.
Ein Fenster wurde geöffnet. Das Licht in dem Raum dahinter hatte man ausgeknipst. In dem dunklen Rechteck sah ich zwei helle Flecken. Gesichter.
»Hallo«, rief ich. »Helfen Sie mir! Ich werde von zwei Verbrechern verfolgt. Sie müssen gleich hier sein. Meine Arme sind gefesselt.«
»Wer sind Sie?« Es war eine tiefe Männerstimme.
»Mein Name ist…« Ich hielt inne und überlegte. Dann fuhr ich fort: »… mein Name ist Cassidy. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Bitte, kommen Sie und…«
Das Fenster klappte zu. Wenige Sekunden später wurde die Haustür geöffnet. In der Diele brannte Licht. Ich sah die hohe Gestalt eines Mannes, dahinter die einer Frau.
»Zurück, Bianca!«
Das genügte. Die Dogge beruhigte sich. Der Mann kam zum Tor des Zaunes. Die Rechte hielt der Mann ausgestreckt. Als er fast vor mir stand, sah ich, daß eine Pistole in der Faust lag.
»Kommen Sie ‘rein.«
Er öffnete das Tor. Der Hund knurrte, blieb jedoch einige Schritte entfernt. Ich stolperte auf das Grundstück, sackte in die Knie, richtete mich wieder auf und wurde von dem Mann ins Haus bugsiert. In der Diele stand die Frau. Sie war jung, blond und hatte große, braune Rehaugen. Als ich ins Licht trat, stieß sie einen erschreckten Ruf aus. Ich muß grauenhaft ausgesehen haben. Ich war blutig, zerkratzt, zerschunden, von Dornen zerfetzt, schmutzig, abgehetzt und atemlos.
»Schließen Sie die Tür«, stieß ich keuchend hervor. »Löschen Sie das Licht! Lösen Sie meine Fesseln und geben Sie mir eine Waffe! Haben Sie Telefon?«
Der Mann schüttelte den Kopf. Er war ungefähr in meinem Alter und sah wie ein Farmer aus. Derb, knochig, frisches Gesicht, kurzgeschorenes Blondhaar und gemütvolle blaue Augen.
»Was hat man denn mit Ihnen angestellt? Warum ver…«
»Bitte«, sagte ich rasch. »Jetzt ist keine Zeit für lange Erklärungen. Die Mörder weiden gleich hier sein. Und sie werden versuchen, mich noch zu erwischen. Bitte, lösen Sie meine Fesseln!«
Ich drehte ihm den Rücken zu und fühlte, wie er an dem Draht herumnestelte. Nach ein paar Augenblicken meinte er: »Ohne Zange kriege ich das nicht auf. Emmy, sei so gut und…«
Er sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick begann die Dogge wieder wütend zu bellen. Dann krachte ein Schuß. Das Bellen verstummte, ging in ein klägliches Winseln über. Das Winseln erstarb, und dann herrschte Totenstille.
»Nein!« Entsetzt preßte die junge Frau eine Hand vor den Mund.
»Sie haben Bianca erschossen«, sagte der Mann. Er war bleich geworden. Auch in seinen Augen stand Entsetzen.
»Die Fesseln«, sagte ich. »Schnell!«
Wir standen immer noch in der Diele.
Der Mann verriegelte die Tür. Dann schob er mich in einen Raum, der mit gemütlichen alten Polstermöbeln ausgestattet war. Das Licht brannte.
»Licht aus!« zischte ich.
Er sprang zum Schalter. Die Deckenbeleuchtung erlosch. Die Frau war in einen anderen Raum gelaufen. Jetzt kam sie zurück. Sie hielt etwas in der Hand. Vermutlich die Zange. Sie gab sie ihrem Mann, und er versuchte, im Dunkeln meine Drahtfesseln durchzukneifen. Es waren mindestens zwanzig Windungen, die meine Unterarme vom Ellbogen bis zum Handgelenk umschnürten und aneinanderpreßten. Der Blonde begann jede einzelne Schlinge durchzukneifen. Er machte es geschickt. Aber da er nicht sah, wo er ansetzen mußte, geriet beim dritten Mal ein Stück Haut mit unter die Kneifkanten der Zange. Ich spürte es, aber ich sagte nichts. Ich wollte meinen Helfer nicht unsicher machen. Als er die Holme der Zange zusammenpreßte, stöhnte ich laut auf. Es war ein elender Schmerz.
Draußen blieb alles ruhig. Wahrscheinlich schlichen die Mörder jetzt ums Haus, um festzustellen, mit wieviel neuen Gegnern sie rechnen mußten.
Dann endlich fiel die letzte Drahtschlaufe. Meine Arme baumelten nach vorn. Die Schultergelenke schmerzten. Ich versuchte die Finger zu bewegen. Es war unmöglich. Ich beugte die Arme. Ich schlug die Hände gegeneinander. Alles war umsonst. Das Blut stockte, konnte nicht zirkulieren.
»Ich bin hilflos«, stöhnte ich in ohnmächtiger Wut. »Ich kann die Hände nicht gebrauchen.«
Der Mann, hatte die Zange achtlos beiseite geworfen und hielt
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